„Nun, ich wohne hier. Was man von dir ja nicht mehr behaupten kann.“, entgegnete sie giftig. „Oder hast du etwa schon Arbeit gefunden?“
„Na ja, nicht direkt, aber, ...“, druckste Fayn herum.
„Also bist du hier eingebrochen? Wow, nicht schlecht Kleiner. Das hätte ich dir nicht zugetraut.
Übrigens, Vater ist noch wach. Soll ich ihm von deiner Meisterleistung erzählen? Er wird bestimmt mächtig stolz auf dich sein.“, fragte sie spöttelnd und wandte sich schon zum Gehen um.
„Nein, warte!“, zischte Fayn hastig.
Lysa blieb stehen und grinste hämisch. „Warum sollte ich?“, forderte sie ihn heraus.
„Ich bin ja schon wieder weg.“, antwortete Fayn genervt. Mist, warum musste diese blöde Kuh um diese Zeit noch in die Bibliothek kommen?
„Ich benötige nur ein paar wichtige Informationen. Wieso gehst du also nicht wieder rein und tust so als wäre nichts geschehen?“, murrte er.
Fayn schielte nervös auf den dicken Schmöcker. Er wollte nicht, dass sie sieht, welches Buch er durchblättern wird.
„Das würde ich wirklich liebend gern tun, Schätzchen. Aber leider kann ich nicht. Die Nachtlilie, schon vergessen? Der Grund warum ich am Nachmittag schlafen gehe und in der Nacht arbeite? Weil irgendjemand muss ja arbeiten, nicht wahr?“, versetzte sie scharf.
„Und wenn ich dich wäre, würde ich jetzt wirklich schleunigst verschwinden, Brüderchen.“
Die Nachtlilie! Daran hatte er nicht mehr gedacht. Mist. Er wäre natürlicher um einiges vorsichtiger gewesen, hätte er gewusst, dass seine Schwester um diese Zeit noch im Garten herum spukte. Fayn warf einen letzten sehnsüchtigen Blick auf das Buch. Er seufzte. Sie hatte Recht. Er hatte jetzt keine Zeit mit seinem Vater zu streiten. Und schon gar nicht mit ihr.
Immerhin hatte er, was er brauchte um Corvu und Oshu aus dem Gefängnis raus pauken zu können. Das Geheimnis um Lilith musste wohl noch warten.
„Na gut, du hast gewonnen, ich geh ja schon.“, gestand Fayn seine Niederlage ein.
„Viel Spass auf der Arbeitssuche“, verabschiedete sich seine Schwester mit gespielter Freundlichkeit.
„Mhm“, machte Fayn nur. „Morgen Abend werde ich wieder zuhause schlafen.“, behauptete er und trat aus der Halle hinaus in die Nacht.
Na, das lief ja schon mal nicht so wie geplant. Hoffentlich verläuft der Rest seines Planes besser.
„Ata!“, flüsterte er wieder, als er sich dem Baum näherte.
„Oh, der tapfere Recke Fayn ist von der Bibliothek zurückgekehrt! Und er ist gesund und munter. Er hat es wieder einmal geschafft. Auf welche Gefahren bist du denn diesmal gestossen?“, fragte der alte Baum doch ein wenig neugierig.
„Eine Furie.“, murmelte Fayn.
„Hört, hört. Auf eine Furie ist der Recke getroffen. Und er hat es überlebt, welch ein Held, welch eine Legende!“
Der Baum hievte Fayn wieder über den Zaun.
„Geister, Furien, welch schreckliche Gestalten verbirgt die Bibliothek denn noch alles. Es ist ein wahrlich schrecklicher Ort!“, hörte Fayn Ata hinter sich jammern, als er sein Zuhause wieder hinter sich liess.
Lilith erwartete Fayn bereits, als er in die dunkle Gasse zurückkehrte. Sie sass auf derselben Bank wie zuvor und liess ihre Beine baumeln.
„Endlich.“, begrüsste sie ihn, ohne sich von der Mauer vor ihr abzuwenden. „Hat ziemlich lange gedauert.“
„Nörgel nicht.“, erwiderte Fayn. „Ich wohne halt weit von hier.“
„Wohnen?“, stichelte Lilith.
Fayn stöhnte. „Nicht du auch noch. Hast du die Nachricht überbringen können?“
Lilith nickte. „Wortgenau. Es war ein Kinderspiel.“
„Schön.“, murmelte Fayn. Und packte das entwendete Buch aus seinem Beutel.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Lilith neugierig.
Fayn blätterte in dem Schmöker. „Leg dich schlafen. Heute können wir nichts mehr tun. Ich werde noch ein wenig lesen, und mich dann auch hinlegen. Gute Nacht.“
„Na, wenn du meinst. Wenn du aber Hilfe brauchst, weck' mich, ja? Gute Nacht.“
Dann machte sich Lilith auf der Bank bequem und versuchte einzuschlafen.
Fayn blieb sitzen und versuchte im Mondschein die Worte auf den Seiten zu entziffern.
Corvu tastete die Wände seiner Zelle ab. Da war er nun, befreit vom kalten Boden. Endlich vermochte er aufrecht zu stehen und sich frei zu bewegen. Lediglich seine Handgelenke waren noch immer aneinander gebunden. Doch das sollte ihn nicht weiter stören. So weit so gut. Und sobald er Oshu von seinen Ketten befreit hatte, waren sie in Nullkommanichts wieder frei. Nur der Mittelteil war um einiges schwieriger. Wie sollte er in Oshus Zelle hineingelangen, ohne die Wachen zu alarmieren? Er könnte einfach die Wand wegstossen. Doch das würde das halbe Gefängnis aufmerksam machen. Corvu hatte genau aufgepasst, als sie in ihre Zellen gebracht wurden und wusste jetzt, wo sich Oshu befinden würde. Nämlich genau in der Zelle rechts neben seiner.
Oder war es links gewesen? Mist. Er hatte es vergessen. Links oder rechts? Corvu lief zwischen den Seitenwänden hin und her. Wartete sein Freund hinter dieser Wand auf ihn? Corvu blickte über die Schulter. Oder hinter der dort?
Er musste es wohl darauf ankommen lassen.
Er strich über die groben Steine, die schlampig mit altem Mörtel aufeinander geschichtet waren. Da kam ihm eine Idee. Er konnte erst mal einen einzelnen Stein lösen, um die Lage hinter der Mauern auszukundschaften. Abtastend folgte er der Mauer in den hinteren Bereich der Zelle. Bei einem der Steine brauchte er nur mit dem Finger darüber zu fahren, und schon rieselte der Mörtel herunter. Damit könnte es klappen. Corvu zielte mit seinen immer noch aneinander gebundenen Händen auf die Stelle und konzentrierte sich auf den Mörtel. Seine Gedanken erfassten die unebene Oberfläche des Materials. Sie schlüpften in jede Spalte, in jede Ritze. Sie dehnten sich langsam aus und pressten gegen jedes Hindernis, dass sich ihnen in den Weg stellte. Das Knacken und Knirschen dröhnte in Corvus Ohren, doch ausser ihm schien niemand im Turm irgendwelche verdächtigen Geräusche zu hören. Langsam, Stück für Stück, löste sich immer mehr vom Mörtel und prasselte auf den Boden.
Mit seinen Gedanken kratzte er den letzten Rest aus den Ritzen zwischen den Steinen und der Stein mittendrin wurde immer lockerer. Nun führte Corvu seine Gedanken durch die andere Hand und hielt mit ihnen den Stein fest, damit er nicht laut klappernd auf den Boden fiel.
Wäre nun jemand in die Zelle getreten und hätte seinen Namen laut ausgerufen, Corvu hätte es kaum bemerkt, so vertieft war er in die Operation. Seine Hände zitterten und auf seiner Stirn bildeten sich Schweissperlen.
Von der Strasse war er solche exakten und komplizierten Anwendungen seiner Kräfte nicht gewöhnt. Dort reichte es meistens jemanden mit ein wenig Schub eine reinzuhauen, oder mit seinen Gedanken einfache Objekte zu erfassen und zu bewegen. Aber Oshu hatte ihn gedrängt auch den präzisen Umgang mit seiner Macht zu lernen. Dafür war Corvu ihm jetzt zutiefst dankbar. Trotzdem hatte er noch nicht viel Übung darin, und es kostete ihn viel Kraft.
Genügend Energie für einen Kraftstoss zu sammeln und sie in einem Sekundenbruchteil wieder frei zu lassen, war eine Sache, mehrere kleine Gegenstände mit einem andauernden Energiefluss zu bearbeiten und dabei Gedanken präzise zu platzieren, war eine ganz andere.
Corvu wusste, dass er noch weit entfernt davon war, seine Gabe zu meistern. Er brauchte sogar immer noch seine Arme um die Energie oder Gedanken zu bündeln und um besser zielen zu können. Endlich war er durch. Der Stein schwebte nun in der schmalen Lücke.
Vorsichtig liess er ihn aus der Lücke hinaus gleiten und legte ihn möglichst geräuschlos auf den Boden seiner Zelle.
Er kniete sich vor das Loch und wagte einen vorsichtigen Blick auf die andere Seite. Es war stockfinster und er konnte nichts erkennen. Allerdings konnte er jemanden sprechen hören.
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