Seine Botschaft war noch eindeutiger als erwartet: ‚Lass Dich nicht hängen! Sei Du selber, nimm es in die Hand und warte nicht auf mich!‘ Und er lachte sie an.
Beim Frühstückstee sortierte sie sich und beschloss, den Kampf anzunehmen. Sie zog sich fertig an, schwarze Hose und schwarzes T-Shirt. Kampfkleidung. Sie legte ihre Kette um und ging über den Hof zum Büro des Verwalters.
Mirko Nemec wirkte erleichtert, als sie eintrat, sagte aber nichts. Erst als sie saß, mit geradem Rücken auf der Stuhlkante, in angespannter Haltung, sah er aus seinen kleinen Augen direkt zu ihr hoch: „Du nimmst es an?“
„Ja.“
„Gut.“
Mirco erklärte ihr noch einmal im Detail, was er und die anderen wussten, und Eva stellte fest, dass die Lücke erschreckend groß war. Während des Gespräches merkte sie ebenfalls, welche Erwartungen auf ihr lasteten. Jasiri war immer der Chef gewesen, alle anderen hatten sich ihm untergeordnet und sich auf ihn verlassen. Das ging nun auf sie über.
Sie gingen gemeinsam alle Unterlagen durch, viel gab es allerdings nicht. Außer ein paar Dokumenten zum Atombombenattentat in der Sahara vor einigen Jahren, einigen politischen Dokumenten zum Gerichtsverfahren um das Gelände der Farm und einem Abdruck der Übertrittserklärung Siziliens zu Afrika fanden sie nur die Personalakten der Farm, die bis auf die Akte von Quasiz alle sehr dünn waren. Eva fand es schmerzhaft, dass auch in ihrer Welt der Verlust von Vertrauen offenbar in harter Bürokratie endete. Unterlagen zu Lieferwegen, Bestellvorgängen oder Ansprechpartnern fanden sie keine. Enttäuscht gaben sie auf.
Eva bemerkte die zunehmende Verzweiflung Mircos und versuchte, so gut wie möglich durchzuhalten. Dazu fragte sie Mirco immer weiter aus. Wegen seines bruchstückhaften Wissens überlegten sie sich ein Hilfsmittel: für alles Unklare wählten sie Tiernamen und deren Beziehungen. Nutztiere für erlaubtes, Wildtiere für alles ungesetzliche oder bedrohliche. Es kam ein ziemlich wilder Zoo dabei zusammen und Eva spürte immer mehr, dass Jasiris Zurückhaltung, sie in seine Welt einzubinden, dazu diente, sie und die anderen auf der Farm zu schützen.
Sie musste sich nun ein eigenes Bild machen. Ihr Zustand schwankte weiterhin zwischen Verzweiflung und Kampfgeist, und die alten Kerle, die immer unter Jasiri ihre Aufgaben erfüllt hatten, halfen ihr nur zu verstehen, wie es bisher geschehen war. Sie musste etwas Neues finden. Irgendwie kam sie auf die Idee herauszufinden, was die Jugend, die neue Generation auf der Farm dachte. Die ganze Organisation war in Gefahr, und in der Jugend lag einer der dringenden Gründe für den Erhalt der Farm. Ihr war zwar nicht klar, was sie sagen sollte, aber das war nur ein Grund mehr zu reden. Mit Mia zu reden.
Mia war unter den Jungen ihre engste Vertraute. Sie war klug, mutig, hilfsbereit, in der nächsten Generation würde sie sicher eine wichtige Rolle auf der Farm oder auch anderswo übernehmen. Mia war im ersten Jahrgang der neuen Funktionsschule der Farm gewesen. Was hatte Eva gekämpft, um das Schulrecht zu erhalten. Zum Glück war das Umland so dünn besiedelt, dass nicht einmal die Regionalverwaltung eine Schule betreiben wollte. So war es am Schluss doch allen recht gewesen, dass sie einsprang. Sie war erstaunt, wie leicht alles Weitere war. Der Unterrichtsstoff stand fertig vorbereitet auf den Rechnern der regionalen Schulverwaltung zur Verfügung, mit allen Materialien. Ausrüstung, Sportgeräte oder Lehrmaterial wurden zuverlässig geliefert. Die wenigen Lehrer, die sie einstellte, waren sofort bereit, in einer kleinen, autonomen Schule zu arbeiten und mit dem Konzept ‚halbe Zeit Unterricht, halbe Zeit auf der Farm mitmachen‘ kamen sie ausgezeichnet klar.
So war eine eindrucksvolle Klassengemeinschaft entstanden, die mit Leichtigkeit durch die formalen Proben gesegelt war, und nebenbei vom Leben mehr mitbekommen hat, als die meisten anderen Kinder in ihrer gesamten Jugend. Mia, Felix und drei weitere waren später auf die Wiener Philosophieschule gegangen. Sie waren ihre Vorzeigekinder.
Eva ging hinüber zum Jugendhaus, wo einige Ältere aus der jungen Generation heute wohnten. Mia war normalerweise freitags hier. Tatsächlich stand da auch ihr Fahrrad, Eva hatte allerdings keine Ahnung, ob sie es noch benutzte. Es war ein altes Fahrrad, ohne Motor, gebaut für schlechte Wege. Mia hatte früher alles damit gemacht, sie war auch um den See und bis nach Wien damit gefahren. Ohne Schutzkleidung. So war Mia.
Eva trat ein, konnte aber nichts hören. Im unteren Flur empfing sie eine Mischung aus Sommerwärme und Kühle, die alten Gemäuern innewohnte, und die altmodisch getünchten Wände standen mit einer rührenden Unschuld um die Türen. Türen, die in Höhlen führten, wie sie es früher oft genannt hatte, weil hinter jeder Türe eine Überraschung wartete, eine Jugendgruppe, die irgendetwas tat, oft auch Dinge, bei denen Erwachsene besser nicht dabei waren.
Doch heute war Stille. Es war draußen warm, doch das war kein Grund: Die Jugend kannte noch nicht den Zwang hinauszugehen, nur weil es draußen schön war, zu offen stand ihnen die Welt, und unendlich weit weg waren die Zwänge des Lebens. Sie beneidete sie darum.
Sie ging alleine den Gang entlang und erinnerte sich. An Freude und Leid, an Leidenschaft und an Spaß. Eine Szene nach der anderen zog wie ein Lufthauch durch ihren Kopf und sie versank immer tiefer in den früheren Erlebnissen. Plötzlich hörte sie ein Kichern, nein, kein Kichern, eine Art leises Jauchzen, vermischt mit Grunzen. Leise, unterbrochen, immer wieder aufflackernd. Sie verfolgte das Geräusch, bis es stärker wurde, und schließlich wurde ihr klar, was es war. Diskret machte sie sich wieder davon und setzte sich vor dem Haus in die Sonne.
Eine knappe halbe Stunde später trat Mia aus der Türe. Sie wirkte gelöst und frisch, ein wenig berauscht und wach zugleich. Ihre Kleidung wirkte leicht unordentlich, aber das tat sie oft. Sie wirkte sehr weiblich.
„Eva“, rief sie fröhlich. „Hallo!“
„Hallo Mia“, antwortete Eva freundlich und ihr war klar, dass sie keinen Grund nennen konnte, warum sie hier saß, also sagte sie erst einmal nichts.
„Dass Du hier sitzt“, Mia kam auf sie zu, „die anderen sind alle am See und bereiten das Fest vor.“
Eva hatte sichtlich keine Ahnung, von welchem Fest Mia sprach.
„Das Sonnwendfest, Eva, heute ist Mittsommer.“
„Ach ja?“
Es kam ihr so weit weg vor, als sie mit den Jugendlichen gemeinsam auf das Mittsommerfest gefiebert hatte. Sie hatten sich immer darüber amüsiert, dass Mittsommer am Sommeranfang ist und meistens auch noch verregnet. Doch die wenigen Male als das Wetter gut war, war es auch immer ein sehr schönes Fest gewesen. Sie hatten ein Feuer gemacht, dazu Musik, ausgelassene Spiele im langen Abendlicht, und anschließend wurden im Feuer Kartoffeln gebraten. Die Kartoffeln hatten immer verbrannt geschmeckt, und wenn sie Pech hatten, waren ihre Schuhe gleich mit verbrannt.
Doch das war jetzt alles sehr weit weg.
„Ich habe das total vergessen“, lächele sie Mia an und blickte fahrig um sich.
Dass ihr Vorbild Eva so jämmerlich dasaß, verunsicherte Mia.
„Es tut mir so leid für Dich“, versuchte sie die Situation aufzufangen. „Das mit Jasiri kann ich selber immer noch nicht glauben. Er war immer so lustig, wenn er da war.“
„Ihr wisst es also schon“, antwortete Eva schwach lächelnd. Mia nickte.
„Es ist alles so unwirklich, wir wissen ja gar nichts.“ Eine Träne schoss Eva hoch. „Aber Trauer ist es nicht, warum ich da bin.“ Dieser Satz kostete Kraft.
Sie blickte über Mia hinweg auf einen Aprikosenbaum, an dem sich einige Käfer tummelten. Das hatte es vor einigen Jahren auch hier noch nicht gegeben. Sie sammelte sich.
„Ohne ihn ist die Farm in Gefahr“, sie blickte Mia an, „Jasiri war der Haken, an dem alles hing. Der alles am Laufen gehalten hatte.“
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