Es war dieser dürre Großvatertyp mit Glatze und Bart gewesen, der im selben Haus wie der Sonntag wohnte und jahrelang mit ihm und vier anderen Nachbarn erfolglos Lotto gespielt hatte. Als er – ebenso zufällig wie Raphael - im Toilettenvorraum das Telefongespräch der Hinkenden mit anhörte, war er überzeugt, von Hans Sonntag betrogen worden zu sein. Denn fast genau acht Monate nach Auflösung der Tippgemeinschaft brachten ihre Zahlen den Hauptgewinn. Weil sie sich jedoch in die Hand versprochen hatten, diese Zahlenkombination niemals selbst zu tippen, konnte auch niemand von den Sechsen gewonnen haben. Doch als der alte Nachbar nun die Übergabe der dicken Briefumschläge sah, erinnerte er sich an Hans Sonntags‘ oft und gern verkündetes Vorhaben, im Falle eines größeren Gewinns zum Alex zu gehen und dort einem Wildfremden einen Batzen abzugeben. Einfach aus Spaß! Und damit er, der edle Spender, im Leben eines Unbekannten eine besondere Rolle spielen konnte.
Der spätere Täter forderte von Hans Sonntag einen Anteil am Gewinn und darüber kam es zum Streit zwischen beiden. Wie ihm der Pflasterstein in die Hand geriet und wie genau er seinen ehemaligen Kumpel erschlagen hatte, daran konnte sich der Nachbar nicht mehr erinnern, weil er – wie der Sonntag – ziemlich betrunken war.
So hatte Janine es von der Kommissarin erfahren. Der Fall war abgeschlossen, obwohl die hinkende Frau vom Alexanderplatz nicht identifiziert werden konnte.
Niemand wird sie je wieder sehen, dachte Janine, während sie sich die fettigen Finger ableckte. Sie war einen Moment unaufmerksam und wurde rüde von irgendjemandem angerempelt. Janine verlor beinahe das Gleichgewicht, sie drohte zu fallen, als sie eine helfende Hand spürte.
„Hoppla“, sagte eine Dame, lächelte Janine freundlich an und setzte ihren Weg fort.
Janine schaute ihr hinterher. Die Frau trug einen weiten wadenlangen Mantel, den Kragen hatte sie hochgeschlagen zum Schutz vor dem Regen. Sie ging irgendwie schief, als wäre ein Bein kürzer als das andere, und mit den Händen in den übergroßen Manteltaschen wirkte sie sehr vornehm und steif.
„Das muss man sich mal vorstellen. Die Polizei sucht ewig, und du läufst ihr in die Arme. Warum hast du die Alte nicht aufgehalten?“, fragte Raphael am Abend.
„Pillepalle.“ Janine kuschelte sich an Raphael. Der Hinkenden vom Alexanderplatz zu folgen, war ihr erster, spontaner Impuls gewesen. Doch sie dachte, Hans Sonntag hätte es nicht gewollt. Und deshalb wollte sie es auch nicht.
Kommissar Daniel Koch schob Fotos von drei ermordeten Männern auf seinem Schreibtisch hin und her. Die Männer wurden alle durch Schläge auf den Hinterkopf getötet, vermutlich mit einem handelsüblichen Hammer, und die Leichen wurden im Schlosspark aufgefunden. Von einem Täter fehlte jede Spur.
Es war bereits nach Mitternacht, und der müde Kommissar gelangte zu der Einsicht, dass ihm der zündende Gedanke zur Lösung des Falls auch in dieser Nacht nicht kommen würde. Er meinte aber endlich zu wissen, was helfen würde: Ein weiblicher Blick auf die Dinge.
Am nächsten Morgen saß Inga Keller vor Daniels Schreibtisch. Sie war eine ungewöhnlich große Frau, die den Kommissar Daniel Koch um Haupteslänge überragte. Sie war noch jung, einigermaßen hübsch und sah aus, als sei sie nicht so leicht einzuschüchtern. Um irgendwelche Unklarheiten in ihrer Zusammenarbeit von Anfang an zu vermeiden, teilte Daniel der neuen Kollegin nach der formellen Begrüßung seine Erwartungen mit: „Sie werden mir helfen, Sie werden stets an meiner Seite sein, Sie sind sozusagen mein drittes Auge, und Sie werden meine Anweisungen genau befolgen. Keine Eigenmächtigkeiten“, sagte er forsch und sah zu ihr auf.
„Bin ich Ihr Bodyguard?“, fragte Inga.
„Unsere Arbeit betreffend, sind Sie meine bessere Hälfte. Wenn ich einen Fehler mache, werden Sie es bemerken und mich korrigieren. Aufpassen werde ich selbst auf mich.“
„Okay“, stimmte Inga zu.
„Gehen wir also als erstes in die Pathologie“, sagte Daniel.
Inga bedeutete dem anwesenden Rechtsmediziner, dass sie die Toten komplett nackt sehen wollte. Nachdem die Leichen vollständig aufgedeckt waren, wanderte sie langsam zwischen den drei Tischen, auf denen die Opfer aufgebahrt waren, hin und her.
„Fällt Ihnen etwas auf?“, fragte Daniel schließlich ungeduldig.
„Es besteht keine Verbindung zwischen den Männern, richtig? Sie sind sich niemals begegnet, das habt ihr überprüft. Sie sind aber nicht wahllos getötet worden, denken Sie das auch, Herr Koch?“
Der Kriminalist nickte als Antwort.
„Und Sie suchen ein Motiv?“
„Wir suchen alles, den Täter, ein Motiv, das Tatwerkzeug ... Sie können wählen.“
Inga stellte sich zu Daniel. Sie beugte sich zu ihm runter, damit er sie besser verstehen konnte. „Zu Hause habe ich eine Sammlung niedlicher Glasvasen“, begann sie, „ich hatte vor kurzem drei Tage Urlaub, die ich allein in Venedig verbracht habe. Dort werden entzückende kleine Dinge zum Kauf angeboten, zum Beispiel bunte Vasen aus Murano-Glas. Ich habe vorher ein bisschen gespart, um mir diese Souvenirs leisten zu können.“
Jetzt fängt sie an zu spinnen, dachte Daniel enttäuscht. Offenbar hatte er es mit einer Kollegin zu tun, die Berufliches und Privates miteinander vermischte, die sich angesichts ermordeter Männer auf Urlaubserlebnisse besann, nein, diese Kollegin war wohl doch ein Fehlgriff, den er unverzüglich korrigieren sollte.
Daniel ging wortlos hinter Inga in sein Büro zurück. Den Blick hatte er auf ihren Rücken gerichtet, auf ihren runden, festen Hintern, und auf ihre langen schlanken Beine. Sie trug hohe Absatzschuhe, was Daniel angesichts ihrer natürlich gegebenen Größe und seiner bescheidenen 1, 67 Meter als Unverschämtheit empfand.
Dieser Umstand bestärkte ihn einige Minuten lang in seinem Vorhaben, die Kollegin wieder loswerden zu wollen. Doch nein, so einfach würde er es weder sich noch ihr machen. Das Leben hielt halt immer neue Prüfungen bereit. Und er hatte doch einen sehr netten Anblick vor sich. Dafür konnte er ihren Hang zu kleinen Verrücktheiten wie den Nippes aus Venedig hinnehmen.
„Nun, das mit Ihren niedlichen Väschen“, eröffnete er umständlich das Gespräch, als sie an seinem Schreibtisch saßen.
„Meine Freundin ist genauso groß wie ich“, unterbrach Inga ihn ungerührt, „sie sammelt auch leidenschaftlich gern, allerdings keine Vasen, meine Freundin bevorzugt Nashörner. Sind wesentlich schwerer zu beschaffen.“
Daniel übte sich in Geduld. Er fragte mit gespieltem Interesse: „Ich vermute, Ihre Freundin sammelt ausnahmslos winzige Nashörner aus Glas?“
Inga war erfreut. „Ja, die kleinen Dinge haben es ihr angetan, wie mir. Das Material spielt dabei eine untergeordnete die entscheidende Rolle.“ Sie verstummte, lächelte ihn an. Es war eine kalkulierte Pause, denn gleich sprach sie weiter. „Unsere drei Opfer sind eher klein, das wird Ihnen vielleicht aufgefallen sein, Herr Kollege. Sie befinden sich aber durchaus im Normbereich. Die Körpergröße der Männer ist sicher nicht die Auffälligkeit an sich.“
„Die wäre dann?“
„Es soll Frauen geben, die mögen keine kleinen Männer, nach meiner Meinung eine glatte Dummheit, doch die Geschmäcker sind verschieden.“
Weil Daniel sie verständnislos ansah, wurde sie deutlicher: „Ich gehe von einer Frau als Täterin aus. An ihren Opfern ist irgendetwas ganz Spezielles zu klein geraten beziehungsweise eher winzig.“ Inga schaute Daniel forschend an. Der Kommissar dachte, es wäre besser, er hielte den Mund. Seine eigene Größe lag im Bereich der Männer, die zurzeit mit Vorliebe von einer Frau getötet wurden. Und womöglich gab es ja noch mehr unliebsame Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den Opfern.
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