„Kommen Sie her, Daniel.“ Inga flüsterte unwillkürlich. „Auf der anderen Straßenseite steht die Heitzer im Hauseingang, sie beobachtet uns. Schalten Sie das Licht wieder ein, Daniel, her zu mir, und küssen Sie mich!“
„Bitte?“
„Schnell, Kollege! Machen Sie Licht! Wir locken sie aus der Reserve.“
Daniel knipste das Licht an und kam zögerlich zu Inga, die die Gardine energisch beiseiteschob. Sie umarmte Daniel. „Schauen Sie zu mir, und küssen Sie mich!“, forderte sie und neigte ihren Kopf.
„So wird das nichts, Sie sind zu groß für mich“, protestierte Daniel, „Sie hätten wenigstens auf die Absatzschuhe verzichten sollen!“ Er fühlte sich unbehaglich. Zwar war er überrascht von ihrem Körper, der viel weicher war, als er sich vorgestellt hatte, trotzdem fürchtete er, eine lächerliche Figur in Ingas Armen abzugeben. Er war zu klein, um sie auf den Mund küssen zu können, selbst, wenn er sich auf die Zehenspitzen stellen würde, und er hatte keine Lust, erfolglose Versuche zu unternehmen.
„Nein, es ist gut, sie wird sehen, dass es nicht passt, das ist wunderbar“, raunte Inga in sein Ohr.
„Verdammter Quatsch!“ Entschlossen wand Daniel sich aus Ingas Umarmung. „Die Spurensicherung soll sich die Bude vornehmen, ich gehe!“ Er wandte sich abrupt ab und lief aus der Wohnung.
Inga sah erneut aus dem Fenster. Der Schatten gegenüber löste sich aus dem Hauseingang. Eine Frau schritt auf die Straße und überquerte die Fahrbahn. Es hatte funktioniert. Die Heitzer würde Daniel direkt in die Arme laufen. Nein, umgekehrt. Daniel würde einer vermutlichen Mörderin in die Arme laufen!
Mit langen Schritten eilte Inga ihrem Chef nach. Als sie den untersten Treppenabsatz erreicht hatte, hörte sie einen Schrei. Daniel! Er wurde angegriffen, und sie fehlte an seiner Seite! Ein weiterer, diesmal schriller Schrei folgte, zweifelsfrei von einer Frau, dann ein Poltern. Inga entsicherte ihre Waffe. Endlich sah sie im Lichtkegel ihrer Taschenlampe ein regloses Paar im Parterre liegen. „Daniel? Leben Sie?“
„Ich hab sie“, schnaufte ihr Chef. Er hatte sich auf die Angreiferin geworfen, bedeckte ihr Gesicht und ihren Oberkörper. Inga entdeckte den Hammer einen Meter entfernt von den beiden, stellte ihren Fuß darauf und sagte: „Kommen Sie hoch, Daniel, jetzt sind Sie sicher.“
Nachdem die Täterin abgeführt war, blieb für den Kommissar nur, sich bei Inga zu bedanken. „Sie mit Ihren verrückten Ideen, Sie hatten recht“, ließ sich Daniel zu einem Lob hinreißen.
„Ich hätte noch mehr verrückte Ideen auf Lager.“ Inga beugte sich ein wenig zu Daniel hinunter und lächelte ihn an. „Vergessen Sie nicht, ich liebe alles, was klein ist.“
„Vielen Dank für Ihre Hilfe“, sagte Kommissar Marco Lüders, „Sie können gehen, Frau Schatz.“
Die junge Frau, die ihm im Büro gegenüber saß, war Zeugin eines Überfalls auf eine Tankstelle geworden und hatte dem Kommissar einen der Täter genau beschreiben können. Mit ihrer Aussage war ihre zufällige Begegnung eigentlich beendet. Doch Marco Lüders hätte sich gern länger mit Luise Schatz unterhalten. Die Frau gefiel ihm. An ihr war nichts übertrieben, sie hatte nichts an sich, was ihn besonders beeindruckte, und nichts, was ihn störte. So eine könnte er heiraten.
Marco war von seinem spontanen Einfall überrascht; er war ihm in Anwesenheit der Frau peinlich. Schnell wiederholte der Kommissar, sie könne jetzt gehen. Statt aufzustehen, blieb Luise sitzen und lächelte ihn gequält an.
„Alles Ordnung?“, fragte Marco.
„Oh, alles bestens. Nur, meine Beine, die sind plötzlich so kraftlos.“
Der Kommissar bot eine Hand als Stütze. „Ist ein Fuß eingeschlafen?“
„Nein, nein. Ich warte einfach ab, es wird nach ein paar Minuten wieder gut sein. Kann ich solange hier sitzen bleiben, oder störe ich Sie?“, fragte Luise mit hochrotem Gesicht. Sie wäre am liebsten samt Stuhl im Erdboden versunken. Unmöglich benahm sie sich. Was würde der Kommissar von ihr denken. In seltenen Momenten passierte ihr dieses Missgeschick, und sie konnte weder gehen noch stehen.
Marco schaute besorgt auf seine Zeugin hinab. Er musste sich um ihre Gesundheit kümmern, zumindest für die Zeit, die sie sich im Kommissariat aufhielt. „Ich hole einen Arzt“, entschied er.
„Wirklich unnötig, ein Taxi reicht“, widersprach Luise.
Marco rief einen Arzt, er musste seine Dienstvorschriften befolgen.
Um die Wartezeit zu überbrücken, plauderten Luise und Marco über dies und das und stellten fest, dass sie einige Gemeinsamkeiten hatten. Beide spielten Lotto, fuhren gern Rad, und auch Luise interessierte sich für Fußball.
„Und Radfahren ist nicht zu anstrengend für Sie?“, fragte Marco nach.
Luise wollte das Bild gerade rücken, das der Mann von ihr haben musste. „Ich war zu nervös“, erklärte sie ihm, „wenn ich mich aufrege, versagen manchmal meine Beine. Keine x-beliebige Aufregung, nein, es muss irgendetwas ganz Besonderes sein. Wie jetzt. Ich musste zum ersten Mal bei der Polizei aussagen, deswegen wahrscheinlich. Entschuldigen Sie bitte die Umstände, die ich Ihnen mache. Ich glaube, es geht langsam wieder.“ Sie wollte aufstehen. Gleichzeitig näherten sich schnelle Schritte; der Notarzt.
Ein Jahr später waren Luise und Marco verheiratet. Es wurde eine glückliche Ehe. Ihren siebten Hochzeitstag im September feierten beide mit einer mehrstündigen Radtour und einem ausgiebigen Picknick.
Einige Tage danach hielt Marco, als er ausnahmsweise früher als Luise zu Hause war, einen an seine Frau gerichteten Brief in den Händen. Er war von ihrer Krankenkasse. Normalerweise öffnete Marco die Post seiner Frau nicht. Aber dies war ein halb offizielles Schreiben, das auch ihn etwas angehen könnte. Deshalb riss er den Umschlag auf. Zehn Euro Praxisgebühr für einen Rettungseinsatz wollten sie von seiner Frau. Das musste ein Versehen sein. Luise hatte von keinem Vorfall berichtet, nach dem ihre Rettung nötig gewesen wäre. Marco rief bei der Krankenkasse an, um seiner Frau diesen unerfreulichen Kontakt zu ersparen.
Die Mitarbeiterin der Krankenkasse bestand auf der Geldforderung, denn sie sei berechtigt. Vor drei Wochen habe er stattgefunden, der Rettungseinsatz für seine Frau, in der Werderstraße 13, und Frau Lüders wäre die Gebühr noch schuldig, die leider bei jedem Einsatz fällig würde. Genaueres wisse sie nicht. Da müsse der Herr Lüders seine Frau fragen.
Es lag kein Irrtum vor. Also hatte Luise einen Arzt gerufen oder jemand an ihrer Stelle. Jemand, der in der Werderstraße 13 wohnte? Das war keine Adresse von ihren Verwandten oder Freunden. Wieso hatte Luise ihm diesen Vorfall verschwiegen?
Eine Frage, die Marco seiner Frau am Abend stellen wollte. Doch dann überlegte er es sich anders. Wozu Luise mit diesen zehn Euro belästigen. Sie würde sich unnötig aufregen. Er würde die Sache regeln, das Geld umgehend online überweisen. Luise würde er weder etwas von dem Brief noch von seinem Anruf erzählen. Damit wäre diese lächerliche Verwechslung, denn um eine solche müsse es sich handeln, abgehakt und erledigt.
Als Marco sich am späten Abend neben die schlafende Luise ins Bett legte, kam plötzlich eine Erinnerung in ihm hoch. Seit er Luise kannte, war es genau zweimal nötig gewesen, einen Notarzt für sie zu rufen. Damals bei der Befragung, als Luise Zeugin des Überfalls auf die Tankstelle war. Und ein zweites Mal. Beinahe hätte er es vergessen. Ein Verdacht regte sich in Marco.
Drei Wochen später meldete Marco seine Frau als vermisst. Er gab bei seinen Kollegen an, Luise wäre von ihrer Arbeit in einem Blumenladen nicht nach Hause gekommen. Er habe keinerlei Erklärung für ihr Verschwinden. Wie auch seine Kollegen wussten, waren Luise und er glücklich miteinander gewesen; ihre Ehe war zwar kinderlos geblieben, aber dieser Umstand war für beide Partner keine Belastung. Dies bestätigten auch Luises Eltern und alle Freunde des Paares, die befragt wurden.
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