„Sie sehen sehr blass aus, Frau Wunderlich, kippen Sie mir ja nicht aus den Latschen. Ja? Okay? Gut.“ Pia Jäger fragte Janine, ob sie Hans Sonntag kannte.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Ich bin die Kommissarin, und Sie sind eine wichtige Zeugin für mich. Ich stelle die Fragen, und Sie antworten. Das ist die Rollenverteilung, klar?“
„Hans Sonntag war mir fremd“, antwortete Janine. Das war ja auch die Wahrheit.
„Sie haben ihn also gestern Abend das erste Mal gesehen?“
„Ja.“
„Sind Sie oft in dieser Kneipe?“
„Nein, ich war vorher nie dort.“
„Und warum ausgerechnet gestern?“
„Warum nicht?“, fragte Janine schnippisch zurück, doch dann fand sie das zickig. Eigentlich war ihr die Kommissarin sympathisch, auch, weil sie fast im selben Alter war wie sie. Janine lenkte ein: „Gestern, da überfiel mich ein dringendes Bedürfnis, ich musste zur Toilette, bin rein und hängen geblieben.“
„Glaube ich Ihnen das mal. Wir haben die meisten Kneipengäste von gestern identifizieren können. Mit Raphael Schramm habe ich auch schon gesprochen.“ Pia Jäger achtete darauf, ob Janine bei der Erwähnung dieses Namens auffällig reagierte, aber nein. „Den Herrn Schramm lernten Sie gestern Abend kennen, Frau Wunderlich?“
„Stimmt. Er hat mich zur Straßenbahn gebracht. Das war alles.“
„Bleiben wir bei Ihnen. Der Kneipenwirt und andere Gäste haben ausgesagt, dass Sie den Herrn Sonntag auffallend intensiv beobachtet haben. Warum, Frau Wunderlich?“
Wozu der Kommissarin von ihrer Vater-Idee berichten? Davon, dass sie als Hobbydetektivin unterwegs gewesen war, um herauszufinden, wer Hans Sonntag war und wie er lebte? Wozu das beichten? Es hatte nichts mit seinem Tod zu tun. Es würde nur eine unnütze Fragerei folgen, und sie käme heute sehr viel später zur Arbeit. Janine stritt ab, sich besonders für Hans Sonntag interessiert zu haben. Das wäre totaler Quatsch. „Wieso sagen die anderen das“, empörte sie sich, „ich beobachte generell gern. Womit hätte ich mir sonst die Zeit vertreiben sollen, allein in einer Kneipe?“
„Ist Ihnen denn Besonderes aufgefallen, gestern Abend? Ich möchte natürlich vor allem wissen, was am Tisch von Hans Sonntag geschah. Falls etwas geschah.“
Es war ärgerlich, dass sie so gar keine Ahnung hatte, was Raphael der Kommissarin erzählt hatte. Von der steifen Manteldame hatte er höchstwahrscheinlich berichtet, und es würde auffallen, wenn sie es unterließ. „Na ja, an eine komische Frau erinnere ich mich gut“, begann Janine, „sie saß kurze Zeit am Tisch von dem Sonntag. Sie trug einen langen weiten Mantel, und ihre Hände, die hat sie immer in den Taschen versteckt.“
„Können Sie diese Person genauer beschreiben?“
„Sie hinkte stark. Fiel extrem auf, als sie zur Toilette ist.“ Aha, dachte die Kommissarin, jetzt kam Janine Wunderlich zu dieser Gehbehinderten, von der ihr auch andere Kneipengäste berichtet hatten. „Und außer der Tatsache, dass die Frau hinkte, wie sah sie aus?“
„Vornehm“, sagte Janine.
„Wie denn vornehm? Wie meinen Sie das?“
„Herrje, ich muss zur Arbeit. Meine Schicht! Kriege ich vielleicht einen Entschuldigungszettel von Ihnen?"
„Nein, auf keinen Fall. Außerdem haben Sie Ihren Kollegen Bescheid gesagt, dass und warum Sie sich verspäten. Frau Wunderlich, beruhigen Sie sich. Je eher Sie mir alles erzählen, umso früher können Sie zur Arbeit. Denken Sie nach, bitte. Die Hinkende, war sie klein oder groß, dick oder dünn?“
„Einigermaßen groß war sie, dünn eher nicht. Sie hatte diesen langen Mantel an, der bis zu den Waden reichte. Der war ihr viel zu weit.“ Janine fiel ein, dass die Hinkende sich in dem voluminösen Mantel verstecken wollte. Ja, klar, wenn man ein Krüppel war …
„Und diese komisch hinkende Dame war mit Hans Sonntag verabredet?“, fragte Pia Jäger.
„Nehme ich an. Er gab ihr diesen Briefumschlag, und dann haute sie ziemlich schnell ab. Steif und vornehm.“
Pia Jäger horchte auf. Von der Übergabe eines Umschlags hatten weder die anderen Kneipengäste noch der Wirt erzählt. „Welchen Umschlag?“
„Ein dicker Briefumschlag.“ Sollte sie der Kommissarin von ihrer Vermutung, Hans Sonntag hätte sich mit einer Prostituierten getroffen, erzählen? Andererseits, seit wann arbeiteten Krüppel als Huren?
„Was könnte in diesem Umschlag gewesen sein?“, fragte Pia Jäger.
„Woher soll ich das wissen. Vielleicht Knete?“
Die Kommissarin nickte gedankenverloren. Janine fühlte sich für einen Augenblick besser; sie hatte die Polizei auf eine Spur gebracht. Die Hinkende und Geld. Hörte sich doch plausibel an, oder?
Am Montagabend auf dem Alex
„Wie war‘s bei der Polizei?“, wollte Raphael von Janine wissen.
„Total entspannt.“
Beide liefen nebeneinander über den Alexanderplatz. Im Gegensatz zu gestern, als beim Warten auf die Straßenbahn kein Blatt zwischen ihre Körper gepasst hatte, achteten sie auf einen kleinen Abstand zwischen sich. Es war dunkel, der Wind stark, Menschen hasteten an ihnen vorbei. Ab und zu stieg Janine Bratwurstdunst in die Nase, sie hatte Hunger, behielt es aber für sich.
„Ich habe dich nie zuvor in meiner Kneipe gesehen“, meinte Raphael, „warum warst du gestern dort?“
Die blödsinnige Antwort, die Janine am Morgen der Kommissarin auf die gleiche Frage gegeben hatte, wollte sie nicht wiederholen. Zur Wahrheit - dass sie ihrem vermeintlichen leiblichen Vater hinterher geschnüffelt hatte - konnte sie sich auch nicht durchringen. Drohte nur Ärger, falls Raphael dies der Kommissarin weiter tratschen würde.
Janine blieb stehen, boxte aus Spaß gegen Raphaels Oberkörper. „Du hast der Polizei meine Handynummer gegeben. Musste das sein? Ohne dich wären die nie auf mich gekommen!“
„Hey!“ Raphael tat, als müsse er sich vor ihr schützen. Wie ein Boxer tänzelte er vor ihr hin und her. „Was ist Schlimmes dran?“
Janine hörte mit den spielerischen Schlägen auf: „Hast du eine Ahnung. Mein Schlaf ist mir heilig, da ist es schon schlimm, wenn mich die Kripo früh um fünf aus dem Bett holt. Das alles nur, weil du über mich gequatscht hast.“
„Mich haben sie vor dir geholt, schon um halb fünf. Meinen Namen hat der Kneipenwirt den Bullen genannt. Dich hätten die auch ohne mich gefunden.“
„Wer weiß. Jetzt suchen sie diese Hinkende im weiten Mantel. Kanntest du die?“
„Nein, hatte ja nur Augen für dich.“ Raphael zog Janine eng an sich. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch wie gestern Abend, als sie auf die Straßenbahn warteten und knutschten. Schön wäre es, sich endlich mal wieder zu verlieben. Aber konnte sie Raphael trauen? „Was hast du denn gemacht, nachdem ich weg bin?“, fragte Janine, „ich habe für die Tatzeit ein Alibi durch meinen Kollegen, den Straßenbahnfahrer, und wie ist das mit dir?“
Am Dienstagmorgen im Polizeipräsidium
„Sie haben kein Alibi, Herr Schramm“, sagte Kommissarin Pia Jäger. „Sie haben Janine Wunderlich zur Straßenbahnhaltestelle gebracht. So weit okay. Danach sieht es flau für Sie aus.“
„Wieso? Ich bin nach Hause. Schlafen.“
„Leider allein“, meinte Pia Jäger lächelnd, „kein Zeuge beziehungsweise keine Zeugin. Doch lassen wir das für einen Moment beiseite. Herr Schramm, ist Ihnen zu Hans Sonntag noch etwas eingefallen?“
„Habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß.“
„Manchmal erinnert man sich erst später richtig. Könnte ja sein, Sie haben in der Kneipe doch irgendetwas bemerkt, das uns weiterhelfen könnte.“
Wieso hackte sie auf diesem Punkt herum, die Kripotante, fragte Raphael sich verunsichert. Konnte sie wissen, dass er im Toilettenvorraum ein Handygespräch der hinkenden Alten unfreiwillig mitanhören musste, in dem das Zauberwort ‚Geld‘ eine große Rolle gespielt hatte? Dreißigtausend Euro hatte der Sonntag ihr geschenkt. Das musste man sich mal vorstellen! Dreißigtausend!
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