„Irgendetwas Spezielles an ihnen“, wiederholte Inga genüsslich, „ich fange mal mit dem eher Unwesentlichen meiner Beobachtungen an, Herr Koch. Der zweite Mann hat sehr niedliche Hände und damit auch niedliche Finger. Sie sind ziemlich schmal, es kursiert da dieser doofe Männerwitz über Gynäkologen, der wird Ihnen geläufig sein. Der dritte Mann hat einen außerordentlich zierlichen Mund und demzufolge vermute ich bei ihm zierliche Zähne und eine winzige Zunge. Wenn Sie nachschauen möchten, werden Sie es sehen.“
Daniel schluckte seinen Ärger, der während Ingas Ansprache erneut in ihm aufkam, hinunter. Er fixierte die ihm gegenüber sitzende Frau mit seinen Augen, von denen er plötzlich dachte, sie mussten Inga erscheinen wie Mausäuglein, und fragte mit schnarrender Stimme: „Und das Wesentliche Ihrer Beobachtungen, Kollegin?“
„Das Wesentliche betrifft die Männer gleichermaßen. Das erste Opfer jedoch besonders“, Inga lächelte Daniel hilflos an. „Mir fehlt da etwas die Erfahrung, Herr Koch. Und angesichts der Tatsache, dass der Mann tot ist …“
„Das beste Stück des ersten Mannes ist extrem klein“, half Daniel ihr.
„Genau das meinte ich“, bestätigte Inga, „und bei den beiden anderen sieht es leider kaum besser aus.“
Wollte die Kollegin aus dieser Sachlage etwa ein Mordmotiv basteln? Völlig abwegig, meinte Daniel für sich. Andererseits hatte er in seiner beruflichen Praxis die merkwürdigsten Menschen kennen gelernt und die skurrilsten Situationen erlebt, so dass er Ingas Spekulation nicht rundweg ablehnte. Wenn eine Frau solch eine absurde Motivlage für möglich hielt, könnte eine andere Frau ähnlich empfinden, und wenn sie verrückt genug war, sich auch zu Morden hinreißen lassen.
„Wir suchen also nach Ihrer, entschuldigen Sie, eher abstrusen Theorie, eine Frau, die Männer mordet, weil ihre – um es volkstümlich zu sagen - Schwänze zu klein geraten sind? Und die sich zudem durch eine geringe Körpergröße auszeichnen, was unter Umständen zusammengehören könnte.“
„Richtig. Nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeit müsste die Mörderin aus dem Umfeld der getöteten Männer oder aus dem ihrer Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen stammen. Woher sollte die Täterin sonst diese intime Kenntnis haben? Ich weiß, Sie haben diese Frauen alle überprüft. Ich möchte trotzdem noch einmal mit ihnen sprechen. Am liebsten würde ich mit Jana Wolter, der Ehefrau des ersten Opfers, anfangen.“
Der Kommissar blätterte in seinen Akten. Er wollte Ingas Vermutungen wenigstens einige vernünftige und gut recherchierte Fakten entgegensetzen. „Fest steht, dass sich die Partnerinnen der Getöteten nicht persönlich kennen, es gibt keine Berührungspunkte in ihren Biographien. Zwei von ihnen leben in Pankow, die dritte im Prenzlauer Berg.“ Er hielt inne. Seine Kollegin hatte die Akten studiert, es war unnötig, sie ihr zu referieren. „Aber warum wollen Sie ausgerechnet mit Frau Wolter reden? Die ist doch als Täterin auszuschließen. Vor allem wegen ihrer Größe oder Kleinheit, je nachdem, wie Sie es sehen wollen. Frau Wolter misst knappe 1,58 Meter. Damit konnte sie nach Auffassung der KTU nicht so töten, wie getötet wurde. Der Winkel, in dem der Hammer in allen drei Fällen auf den Kopf der Männer traf ...“
„Klar, die Täterin muss größer als ihre Opfer sein. Sie ist keineswegs übermäßig groß, jedoch mindestens 1,75 Meter.“
Daniel tat sich immer noch schwer, das von seiner Kollegin skizzierte Mordmotiv zu akzeptieren. Deshalb fragte er nach: „Von welchem Motiv gehen wir nun aus? Sexuelle Frustration oder etwas in der Art? Oder eine Wut auf Dinge, die von der Norm abweichen?“
„Einen menschlichen Körper mit all seinen potentiellen Schwächen würde ich niemals als Ding bezeichnen“, korrigierte Inga ihn sanft, „die Täterin tut dies vielleicht. Was nicht passt, wird aussortiert, beseitigt und weggeworfen. Man spricht doch von einer Wegwerfgesellschaft. Jemand nimmt diesen Begriff sehr wörtlich, Kollege.“
„Also gut, meinetwegen fahren Sie zu Frau Wolter. Auch wenn ich keine Ahnung habe, warum.“
Inga überragte Jana Wolter um mehr als zwanzig Zentimeter. Diese Situation war der Kommissarin vertraut, sie war meist diejenige, die auf andere Leute hinabschaute, ob in der Bahn oder an der Kasse im Supermarkt, bereits im Kindergarten war sie das größte Kind in ihrer Altersgruppe gewesen.
Frau Wolter antwortete auf Ingas Fragen in gleicher Weise wie drei Monate zuvor, unmittelbar nach dem Mord an ihrem Mann. Sie wiederholte ihr Alibi: sie hatte zur Tatzeit am Bett einer erkrankten Freundin gesessen. Die Kommissarin bemühte sich, besonders freundlich zu sein, um ein eventuell vorhandenes Misstrauen bei Jana Wolter zu zerstreuen.
Während des Gesprächs sah sich Inga unauffällig im Zimmer um und entdeckte auf einer Kommode einige Papiere, darunter einen Mutterpass. „In welchem Monat sind Sie?“
Eine zarte Röte überzog Janas Gesicht. „Im zweiten“, flüsterte sie.
„Ihr verstorbener Mann ist also nicht der ...?“
„Mein Mann und ich, wir hatten kleinere Probleme“, schien Jana sich rechtfertigen zu wollen, „und jetzt bin ich ungeplant sofort schwanger geworden.“
Inga nickte verständnisvoll. „Ich kann Sie gut verstehen. Plagen Sie etwa Gewissensbisse? Unsinn, freuen Sie sich auf das Kind. Ja, ich wäre die glücklichste Frau auf der Welt. Kinder sind ein wunderbares Geschenk“, begeisterte Inga sich. Ihre Wangen glühten. Einen Augenblick verliebte sie sich in die Vorstellung, selbst Mutter zu sein. Wenn sie denn einen Mann fände, der keine Angst vor einer großen Frau hätte.
„Wenn die Leute mitkriegen, dass ich von einem anderen schwanger bin, werden sie lästern und denken, ich hätte meinen Mann nicht geliebt“, befürchtete Jana.
„Ignorieren Sie solches Geschwätz einfach“, riet Inga ihr.
„Sie sind wie meine Physiotherapeutin“, Janas Miene entspannte sich, „zum Glück kann ich mit ihr über alles reden, sonst hätte ich schon manches Mal aufgegeben.“
„Die Friseurin und die Therapeutin, keine ist näher an den Frauen dran, in gewisser Weise, Herr Kollege. Ihnen schütten wir unser Herz aus. Sie wissen Bescheid über uns, über unsere kleinen oder großen Sorgen und Beschwernisse.“
Stumm lauschte der Kommissar dem Bericht Ingas über ihren Besuch bei Jana Wolter, während er seine Hände betrachtete. Kaum war der Ehemann tot, das hieß ermordet, schwupps war die Ehefrau schwanger von einem anderen. Sie würden den Liebhaber überprüfen müssen. Konnte sein, er hatte mit Gewalt nachgeholfen bei der Auflösung einer ehelichen Gemeinschaft. „Haben Sie den Namen des Liebhabers von Frau Wolter?“, fragte er, ohne seinen Kopf zu heben.
„Sie weiß nur seinen Vornamen, es war ein Mike. Wie Jana Wolter erzählte, ist er sehr groß und hat langes blondes Haar, das er als Pferdeschwanz trägt. Ich vermute, dass auch alles Übrige an ihm ziemlich groß geraten ist; er schwebt daher nicht in unmittelbarer Lebensgefahr. Sollen wir trotzdem ein Phantombild erstellen?“
„Nein!“ Der Kommissar riss sich verärgert vom Anblick seiner Hände los. Sie waren ohne Makel. Daniel wurde über sich selbst wütend. Das hatte er nun davon, eine Frau ins Team geholt zu haben! Bereits nach einem Arbeitstag mit ihr fühlte er sich verunsichert, bedrängt und schwach. Inga brachte seine Vorstellung vom Fall durcheinander, von dem, was zu tun und was zu lassen war, sie war dabei, ihm die Fäden aus der Hand zu reißen, er würde Fehler begehen, die Übersicht verlieren und - das Allerschlimmste - er schlug sich ihretwegen mit abwegigen Gedanken über die Größe seiner Finger und anderer Körperteile herum. Damit musste Schluss sein!
Daniel räusperte sich und schob energisch Papiere auf seinem Schreibtisch hin und her. „Wir machen Folgendes“, ordnete er an, „das heißt, Sie machen Folgendes. Sie stellen fest, welche Friseurin und welche Physiotherapeutin die Partnerinnen der Ermordeten in Anspruch nehmen. Sollte mich wundern, wenn es jeweils dieselbe wäre.“
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