„Wie lange lebte die Tote denn auf Ihrem Hof?“
„Schätze vier Jahre und ein paar Monate.“
„Wie, nur vier Jahre, relativ kurz, finden Sie nicht?“
„Grit hatte sich in diesen Jahren halt hochgerackert von einer Erntehelferin zur Magd. Wir verweigerten uns ihr nicht, da sie viel mehr konnte, als sie vorgab.“
„‘... als sie vorgab‘, das interessiert mich. Sie hatte also ein Leben vor ihrer Magdexistenz! Wissen Sie, welches?“
„Nein, hm, ich konnte Grit, äh, die Tote, wann und wo, beim Säen, beim Ernten, im Stall oder sonst wo nach ihrer Vergangenheit fragen, sie wich mir immer wieder aus. Einmal aber sagte sie mir, sie hätte mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen. Ihre Vergangenheit sei so schräg verlaufen, dass Worte darüber zu vergeuden, sich nicht lohne. Damit war das Thema abgeschlossen, und Grit ließ mich wie angewurzelt stehen.“
„Muss ja amüsant gewesen sein mit ihr.“
„Manchmal zu amüsant. Die tägliche Hofarbeit ist zu allen Jahreszeiten Knochen brechend schwierig, nervend, zeitraubend, aber erforderlich.“
„Und wer könnte anderes im Sinn mit ihr gehabt haben?“
„Da fragen Sie mich was. Ich jedenfalls weiß es nicht.“
„Wenn Sie noch mal zurückdenken, woran erinnert Sie Ihre verstorbene Magd am ehesten.“
„Grit war nicht ‚unsere Magd‘! Sie konnte hier tun und lassen, was sie wollte. Sie hätte auch anderes nicht zugelassen!“
„Also eine recht resolute Frau, die Ihnen auf der Nase herumtanzte, verstehe ich das richtig?“
„So wiederum auch nicht, da wäre ich schon gegen gewesen. Ihre Pflichten in Haus und Hof waren je nach Saison, komme, was wolle, stets zuerst zu erledigen. Auf sie war zu allen Jahreszeiten Verlass - bis eben heute Morgen.“
„Deutsche Tugend, und weiter.“
„Nicht nur.“
„Fällt Ihnen ein Beispiel, eine besondere Begegnung mit ihr ein, Herr Lennartz?“
„Ich hatte mich schon öfters gefragt, was für eine Frau Grit sei. So direkt erinnere ich mich, dass vor vielleicht drei Jahren im Sommer Fremde am Feldrand auftauchten.“
„So was kommt bei Ihnen hier draußen vermutlich öfters vor?“
„Im Sommer häufiger, ja, nur diesmal waren es jüngere Ausländer, die sich wohl verlaufen hatten. Meine Frau und ich staunten nicht schlecht, als Grit vom Trecker heruntersprang und zu diesen Fremden hinrannte. Sie müssen sich vorstellen, ziemliche Hitze und sie in Arbeitskleidung. Wir warteten auf sie beim Trecker, aber Grit rannte einfach weg und ließ uns dumm aussehen. Was an für sich unbegreiflich war, denn als der Vorfall passierte, war sie noch keine Magd, half ja nur und hatte Pflichten, aber niemals das Recht, einfach so vom Feld zu verschwinden und uns stehenzulassen.“
Der Bauer schlug verärgert mit der Faust an die Stallwand, worauf Gänse im Hintergrund losgackerten.
„Regen Sie sich doch nicht noch auf, Herr Lennartz. Was passierte denn damals konkret?“
„Anstatt ans Feld zu fahren, unterhielt sie sich in sichtbarer Entfernung mit den Fremden. Mir platzte damals fast der Kragen! Ziemlich wütend stampfte ich ihr entgegen, von der wartenden Arbeit weg. Die gemischte Gruppe, die einen Kreis um Grit herum gebildet hatte, löste sich sofort auf, als ich kam, wohl, weil sie bemerkt hatten, dass ich nicht sehr erfreut war. Gerade noch hörte ich, wie die Gruppe sich von Grit verabschiedete und Grit erwiderte auch noch etwas. Stellen Sie sich mal vor, von dem, was ich hörte, verstand ich kein einziges Wort.“
„Wie denn das?“
„Grit hatte wohl die ganze Zeit mit diesen Touristen Englisch gesprochen.“
„Wenn Sie doch kein Wort verstanden hatten?“
„Englisch erkennt wohl jeder, schon wegen der britischen Alliierten hier oben. Ich hab’ Grit auch gleich zur Rede gestellt, sie ausgeschimpft, was sie sich vorstelle, von der Arbeit einfach so zu verschwinden und uns stehen zu lassen. Sie grinste nur, hinterließ, bevor sie zurückrannte, dass sie ziemlich junge Briten nach dem Alster-Wanderweg gefragt hätten. Sie hätte es genossen, nach Jahren wieder auf Englisch ein paar Worte wechseln zu können.“
„Woher sie so gut Englisch sprach, wissen Sie selbst heute nicht?“
„Nein, vielleicht weiß Frederike, meine Gattin, mehr. Sie hat Grit ja all die Jahre fast mehr mit ihr als mit mir gesprochen.“
„Ich stehe ja erst am Anfang meiner Ermittlung. Erntehelferin, die sich auf Englisch unterhielt? Mein neuer Fall wirft schon jetzt andere Schatten, als ich auf der Hinfahrt vermutete. Dann werde ich mich mal ins Haus begeben, um mich mit Ihrer Gattin zu unterhalten.“
„Gahn se bidde in de döns. Ick kume liek. Mien Keerl kume jüst de liek.“
Gehen Sie bitte ins Haus. Ich und mein Mann kommen gleich nach
„Wie bitte?“
„Ach, Plattdeutsch! Das war das Einzige, was Grit aus dem Häuschen brachte, dass aber so richtig! Sie ertrug es nicht, wenn in ihrer Gegenwart Plattdeutsch gequasselt wurde. Unser Trick, um Persönliches zu bereden, das Grit nicht mitkriegen sollte. Setzen Sie sich in die geheizte Stube, Inspektor, ich komme gleich nach.
„Dann bis gleich. Ich geh mal wieder ins Haus, um nachzusehen, wie weit meine Leute mit dem Tatort sind.“
„Wenn mein Weib nicht gleichkommt, müssen Sie nach ihr rufen. So richtig verkraften, dass ein paar Meter von unserem Schlafzimmer letzte Nacht ein Mord geschah, wird Frederike, glaube ich, lange nicht.“
„Wer kann das schon, ich geh‘ dann mal.“
I Verstrickungen
Samstagabends, halb zwölf p.m. in einem Vorort von Scranton, Pennsylvania.
Erwartungsvolles Drängen in eine zum Bersten überfüllten Wrestling-Halle. Nervös, aufgeladene Atmosphäre, viele weiße und einige dunkelhäutige Männer und Frauen verteilen sich über die Ränge. Zahlreiche stimulierende Männerstimmen aus den Sitzreihen rund um den grell beleuchteten Ring, dagegen diszipliniertes Warten auf den Tribünenrängen. Gespräche, Zuprosten, Zwistigkeiten unter Platznachbarn, welche spontan abbrachen, kaum, dass der Minutenzeiger die zwölf übertickte. Angespannt harrte jeder und jede auf die Fanfare, die den Gladiatoreneinzug in den Ring begleiten sollte.
Mehrfach gestoßen windete sich eine etwa dreißigjährige strohblond gelockte Frau zunächst an schmalgesichtigen Smokings, dann an einer grölenden Gruppe älterer Soldaten in Uniform vorbei. Von Mal zu Mal nach ihr grapschende Hände abwehrend, Verbalentgleisungen ungeachtet hinter sich lassend, stürmte die adrett aussehende Frau im schicken Übergangsmantel vorwärts, ihrem reservierten Sitzplatz entgegen.
Die überhastet eilende junge Frau war spät dran. Die Fahrt von Boston, wo sie lebte und arbeitete, bis nach Scranton hatte länger gedauert als einkalkuliert, obwohl sie schon am frühen Nachmittag ihre Wohnung verlassen hatte und in ihren ebenso schicken Rover losgefahren war.
Die junge, stürmische Frau hielt inne, orientierte sich einen bewegten Rang aufwärts. Ihr Sitzplatz lag wohl mittendrin in einer von ihren Sitzen erhobenen, anfeuernden Männermenge. Ausgerechnet! Kaum hatte sie sich an den ersten Männerbäuchen vorbeigedrängt, stoppte die Fanfare und schlagartig wurde es in der Halle still.
Die Hallenatmosphäre – pulsierend, zum Bersten gespannt. Die beiden umjubelten Wrestlingattraktionen konnten jeden Moment Einzug halten. Und sie, die vorwärts hetzende Frau? Sie drehte sich voller Spannung zum Ring. Mit einem Mal war ihr Platzstreben vergessen, so kurz vor dem Beginn. Sie nahm verärgert die sich aneinanderreihenden Schulterwände vor sich wahr, ärgerte sich und sprang hoch und höher, versuchte über Schultern hinweg den Blick zum noch leeren Ring zu ergattern. Ergattern schon, aber nicht zu halten. Oh, diese Weiber vor ihr mit ihren turmhohen Hüten!? Ungeduldig wechselte sie mehrmals ihre Position. Bemühte sich, so viel Ringsicht zu ergattern, wie sie nur konnte, getrieben von nur einem Ziel: Melon Jim, ihren Wrestlingboliden, fighten und siegen sehen.
Читать дальше