Folgsam schnappte die Bärin nach dem Tragbeutel und zerrte Ambra mit sich.
Halt durch, gleich wird es warm, sprach Arunis unentwegt in Ambras schwindendes Bewusstsein. Es war schwierig, die Bärin trotz des Sturmes in Trance zu halten, doch endlich war es geschafft: Ambra landete in einer warmen, trockenen Erdhöhle. Die Bärin sank augenblicklich zurück in den Schlaf, während Arunis sich noch einmal anstrengen musste, um die Jungtiere abzuhalten, Ambra als Spielzeug zu benutzen. Stattdessen brachte er sie dazu, sich nah bei ihr zusammenzurollen und mit ihren kleinen, pelzigen Körpern die junge Frau zu wärmen.
Schlaf, du bist in Sicherheit, flüsterte Arunis zärtlich. Er würde nun Wache halten müssen, damit die Bärenfamilie auf keinen Fall vor Ambra munter wurde. Zufrieden mit sich und seinem Werk entspannte er sich mit Erinnerungen. Davon hatte er genug, für jede Gelegenheit und Stimmungslage …
***
Evlin befreite sich aus seinem behelfsmäßigen Unterschlupf. Der Sturm war früher über ihn hereingebrochen als erhofft, aber nun ließ Osharkas Zorn endlich nach. Der Gott des Winters lag allzu oft im Streit mit Kanuri, dem Gott der Winde. Wenn Kanuri seinen eisigen Atem aus dem Norden spüren ließ, dauerte es nie lange, bis Osharka seine Schneewolken auftürmte, um sich seinem Rivalen entgegenzustellen. Sie kämpften gemeinsam um die Gunst von Naura, der Frostgöttin, die es liebte, wenn die Sonne auf Raureif und Eiszapfen schien und so die Welt zum Glitzern brachte.
Leise fluchend kämpfte sich Evlin aus dem hohlen Baumstamm frei und zerrte an seinem Köcher, der sich im Geäst verfangen hatte. Evlin hatte damit die Öffnung im Stamm so gut wie möglich abgedichtet.
Ein Blick auf die sonnengefluteten Lande bewies, dass Naura es geschafft hatte, ihre beiden Liebhaber zu besänftigen. Da der Wind nun sacht aus dem Westen blies, würde das Wetter sich gewiss zwei Tage lang so halten. Eigentlich hatte Evlin nur auf gut Glück Ausschau nach jagdbarem Kleinwild gehalten und wollte rasch zurück in sein Dorf. Er war nicht für eine längere Jagd gerüstet. Andererseits war die Gelegenheit zu günstig, um sie verstreichen zu lassen. In den dichten Wäldern westlich seines Dorfes streiften große Damhirsche umher. Einen jungen Bock oder eine Färse könnte er erlegen und mittels eines provisorischen Schlittens nach Hause bringen. Ifra würde ihn für seinen Mut bewundern, und sie brauchten dringend neue Nahrungsvorräte, nachdem ein Teil der Getreideernte durch Fäulnis verloren gegangen war.
So sei es! Entschlossen packte Evlin seinen Bogen, vergewisserte sich, dass er ausreichend Pfeile dabei hatte und die Sehne trocken geblieben war. Dann schnallte er sich die breiten Holzbretter unter die Stiefel, die es ihm ermöglichten, leichter über den Schnee zu laufen und sogar ein wenig zu gleiten, und machte sich auf den Weg.
***
Ambra! Wach auf! Ambra!
Das hartnäckige Flüstern drängte sich in einen Traum, in dem sie mit Robina Hand in Hand über eine sonnenbeschienene Lichtung lief. Ein Jubeln wollte sich aus ihrer Kehle befreien, doch alles, was sie zustande brachte, war ein heiseres Knurren.
Ambra! Hörst du mich? Aufwachen!
Die Lichtung löste sich auf, ebenso Robinas Gesicht.
Sie drehte unwillig den Kopf, öffnete die Augen, erschrak. Tiefe Dunkelheit um sie herum.
Ganz ruhig, hörte sie wieder dieses Flüstern. Das zumindest war kein Traum. Sie wollte sich aufrappeln, aber es ging nicht. Etwas Schweres drückte sie nieder. Sie lag still, mit wild klopfendem Herzen und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen.
Richtig, sie war geflohen, zusammen mit Arunis.
Robina.
Schmerz stieg in ihr auf, mit aller Macht musste sie die Tränen unterdrücken.
Alles ist gut, der Schneesturm ist vorbei. Es wird Zeit, weiterzuziehen.
Sie schluckte die Tränen hinunter. Bei Ephemi, der Göttin der Trauer, sie hatte genug geweint!
Arunis? Wo bin ich? Die Dunkelheit lag beklemmend auf ihr. Noch dazu nahm sie nun einen strengen Geruch wahr. Nach Tier. Mit den Fingerspitzen tastete sie vorsichtig den Boden ab.
Erde. Und eindeutig etwas Haariges.
Eisiger Schreck fuhr durch ihre Glieder, als sich etwas knapp neben ihr bewegte. Das Etwas schnaufte, schmatzte und knurrte.
Ein Bär?
Beinahe richtig geraten, kicherte Arunis. Genau genommen sind es drei.
Was? Wie?
Sie wagte nicht, sich zu rühren.
Ich wusste nicht, wie ich dich sonst warm halten sollte. Komm jetzt! Bewege dich ganz vorsichtig, ich werde dafür sorgen, dass sie nicht aufwachen.
Ich kann nichts sehen!
Arunis lachte leise. Ich helfe dir. Die Höhle ist nicht groß, aber du wirst den Schnee beseitigen müssen.
Für dich ist das alles wohl ein großer Spaß, meinte sie anklagend.
Naja, ich gebe zu, dass ich schon lange nicht mehr so viel Abwechslung hatte. Nun mach endlich!
Sie rappelte sich vorsichtig auf, tastete noch einmal ihre Umgebung ab. So wie es sich darstellte, hatte der Bär seine Vorderpranke um ihre Mitte gelegt. Sie hob die schwere Tatze langsam hoch und schob sie zur Seite.
Hielt inne, als das Tier ein leises Knurren ausstieß. Doch anscheinend schlief es tief, es rührte sich nicht.
Im Sitzen ließ sie ihre Hände weiter forschen. Ihre Finger stießen auf ein weiteres Fellknäuel, das zu ihren Füßen lag.
Ein Junges. Arunis’ Stimme klang knapp und sie glaubte, leichte Anstrengung in ihr zu hören. Schieb es einfach langsam zur Seite.
Sie tat, wie er ihr geheißen hatte. Das Bärenjunge bewegte sich nicht. Seltsam. Wie machte Arunis das?
Auf allen Vieren kroch sie weiter. Ihre Finger tasteten Schnee und sie begann zu graben. Es war nicht weiter schwierig, er war leicht und pulverig. Sie blinzelte, als sie endlich Tageslicht sah und musste geblendet die Augen schließen.
Dann sah sie sich um. Sie befand sich in einer leichten Senke, die von Fichten umgeben war. Der Himmel über ihr war blitzblau, die Strahlen der Sonne, die durch die dichten Äste fielen, ließen die weiße Pracht glitzern.
Wir müssen weiter , mahnte Arunis.
Erst jetzt merkte sie, dass der Riemen des Tragebeutels ganz zerschlissen war. Zum Glück hatte sie Ersatz mitgenommen. Nicht auszudenken, wenn sie den Beutel verlor! Sie knüpfte einen neuen Riemen und zurrte den Tragebeutel fest. Die Höhle verschloss sie mit Schnee, damit die Bären ungestört weiterschlafen konnten.
Sie streckte ihre steifen Muskeln. Ihr Magen knurrte laut in der Stille.
Also gut. Du solltest vielleicht vorher essen.
Nachdem sie ein Stück Brot und eine Handvoll Trockenfrüchte verspeist und ihren Durst mit Wasser aus dem mitgebrachten Lederschlauch gestillt hatte, stapfte sie weiter. Es war ein beschwerliches Unterfangen. Der Schnee lag zum Teil kniehoch, ein Pfad war nicht zu erkennen und obwohl Ambra daran gewöhnt war, stundenlang durch unwegsames Gelände zu streifen, sank sie immer wieder bis zu den Knien im Schnee ein, stolperte über Äste und Steine, die unter dem Weiß verborgen waren und rutschte auf dem festgefrorenen Schnee. Schon nach kurzer Zeit war sie mit ihren Kräften wieder am Ende.
So geht das nicht , hörte sie Arunis plötzlich sagen, als sie keuchend am Rand eines Abhangs stehen blieb. Ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte dich nicht nach Norden führen sollen.
Ach? Das fällt dir jetzt ein?
Tut mir leid. Ich bin nicht unfehlbar.
Der Geist hörte sich so zerknirscht an, dass Ambra lächeln musste.
Ist schon gut. Lass mich nachdenken. Diesmal werde ich mir etwas überlegen.
Es musste doch eine Möglichkeit geben, um schneller vorwärts zu kommen!
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