Sumar.
Ambra stellte sich den Klang des Namens vor, wie Robina ihn aussprach. Sie öffnete den Mund, wusste aber im gleichen Moment nicht, wie sie es anstellen konnte, den Namen, den sie im Kopf hörte, laut zu sagen. Nur ein leises Keuchen entwich ihren Lippen. Es war, als hätte der Schöpfergott Mokil, der auch Arunis in seine Flasche gebannt hatte, vergessen, ihr eine Stimme zu geben. Wie grausam dieser Gott doch war!
Ein Frösteln überlief sie und mit einem Mal hielt sie die Stille nicht mehr aus. Sie nahm die Schaufel auf und lief über den schmalen Pfad, den sie von der Hütte weg geschaufelt hatte, zurück. Robina wartete gewiss schon mit einer heißen Tasse Lindenblütentee.
Ambra stampfte mit den Füßen, um den Schnee von den Stiefeln zu schütteln und öffnete mit einem Ruck die Tür. Der würzige Geruch von Baumpech empfing sie. Am Vormittag hatte sie zusammen mit Robina eine Salbe gegen Gliederreißen gekocht. Einen Teil davon konnten sie im Dorf verkaufen, sobald das Wetter eine Wanderung dorthin zuließ.
Sie brauchte einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Warum hatte Robina die Kerzen noch nicht entzündet?
Mit steifen Fingern nestelte sie an den Bändern ihres Umhangs und streifte ihn ab. Wieder fröstelte sie. Das Feuer war ausgegangen.
Robina?
Suchend sah sich Ambra um. Erst jetzt entdeckte sie ihre Ziehmutter, die zusammengekauert im Lehnstuhl saß. Heißer Schreck fuhr durch ihr Herz. Sofort war sie an ihrer Seite, rüttelte sachte an ihrer Schulter.
Robina fuhr hoch, blinzelte benommen. „Ambra? Ach … was …? Ich muss eingeschlafen sein“, murmelte sie.
Ambra zog fragend die Augenbrauen hoch, streichelte sanft ihre Schulter. Wie zerbrechlich sich ihre Knochen anfühlten! Noch nie war ihr das so bewusst gewesen. Robina wurde alt.
Der Gedanke machte ihr Angst.
Robina schüttelte den Kopf und schob ihre Hand weg. „Ich habe nicht besonders gut geschlafen“, meinte sie abwesend.
Ambra nickte. Ja, sie hatte schon bemerkt, dass Robina manchmal Albträume hatte und in letzter Zeit schienen sie sie immer öfter und intensiver zu quälen.
„Es geht so nicht weiter.“ Robina stemmte sich hoch und bemühte sich, ein Ächzen zu unterdrücken. „Ich war zu lange sorglos. Ich muss Vorkehrungen treffen.“
Ambra schüttelte den Kopf und hob die Hände.
„Doch, Liebes. Es wird eine Zeit kommen, wo ich nicht mehr für dich da sein kann. Ich hätte schon viel früher …“ Sie wandte sich ab. „Aber was rede ich da. Du wirst hungrig und müde sein nach der vielen Arbeit. Außerdem brauchst du etwas Warmes zum Trinken. Du bist ja völlig durchgeschwitzt. Zieh nur schnell die nassen Kleider aus und hänge sie auf die Trockenstange. Ich werde das Feuer wieder anfachen, es ist zum Glück noch nicht völlig ausgegangen. Wie nachlässig von mir …“
Ambra lauschte auf das Murmeln Robinas. Etwas bedrückte sie, ganz gewiss. Ambra kannte die Angewohnheit ihrer Ziehmutter, sorgenvolle Gedanken unter einem Wortschwall zu begraben.
Während sie sich aus den Kleidern schälte, fiel ihr Blick auf die kleine blaue Flasche auf dem Kaminsims. Täuschte sie sich oder flackerte Arunis’ Licht in ihrem Inneren lebhafter als sonst?
Obwohl Arunis immer da gewesen und ihre Kindheit begleitet hatte, war ihr der Geist ein wenig unheimlich. Im Gegensatz zu Robina konnte sie sich nicht mit ihm unterhalten und oft fühlte sie sich ausgeschlossen, wenn ihre Ziehmutter Zwiesprache mit dem unsichtbaren Wesen hielt. Es sah sonderbar aus, wenn Robina lautlos die Lippen bewegte oder einer für Ambra unhörbaren Stimme lauschte.
Einmal, nur ein einziges Mal, war ihre Neugier groß genug gewesen und sie hatte die Flasche in die Hand genommen. Das Flackern des Lichtes hatte sie fasziniert. Wie sehr erschrak sie, als sie merkte, dass das Glas ganz warm war und vibrierte! Beinahe hätte sie die Flasche fallen lassen und schnell hatte sie sie wieder auf ihren Platz gestellt.
Manchmal fragte sie sich, warum Robina Arunis eigentlich behielt, wo er ihr doch nichts nützte. Robina hatte ihr zwar erklärt, dass es fatale Folgen haben konnte, wenn Arunis in die falschen Hände gelangte und dass es besser war, wenn er hier in ihrer Hütte blieb, wo ihn niemand vermutete, auch wenn niemand das Zauberwort wusste, um die Dienste des Geistes beanspruchen zu können. Ambra lauschte auch den Geschichten, die Robina von Arunis hörte. Die meisten handelten von blutigen Schlachten und verzwickten Intrigen und das alles interessierte sie nicht besonders.
Manchmal gab es aber auch nette darunter. Sie mochte besonders die eine von der hässlichen Hexe Mehrab, die von Arunis in ein wunderschönes Mädchen verwandelt wurde und einen tapferen Prinzen zum Gemahl bekam.
Ambra schlüpfte in ihr langes Nachthemd und setzte sich ans Feuer, das wieder lustig prasselte. Der süße Duft der Lindenblüten kroch in ihre Nase, als Robina eine Handvoll davon in einen Becher gab und mit heißem Wasser auffüllte.
Gemeinsam verzehrten sie ein bescheidenes Abendmahl, das aus kaltem Haferbrei und getrockneten Früchten bestand. Wie immer schwieg Robina während des Essens, doch als Ambra aufstehen wollte, um das Geschirr wegzuräumen, hielt sie sie mit einer Handbewegung zurück.
„Setz dich zu mir, mein Kind. Ich muss dir etwas sagen.“
Ambras Herzschlag stockte für einen Moment, aber dann kuschelte sie sich in die Arme Robinas, die es sich auf ihrem Lager bequem gemacht hatte.
Robina streichelte über Ambras Haar, ihre Finger versuchten allerdings vergeblich die schwarzblau glänzende Lockenpracht zu entwirren, die ihrer Ziehtochter bis auf die Hüften fiel. „Ich habe mich vergeblich bemüht, das Geheimnis deiner Herkunft zu lösen, also habe ich alles getan, um dir eine gute Mutter zu sein“, flüsterte Robina. Das Sprechen fiel ihr sichtlich schwer. „Ich war vielleicht sogar zu gut zu dir, habe dich von allem Bösen abgeschirmt, auch weil du diesen besonderen Makel hast.“ Ein trauriges Lächeln huschte über Robinas Gesicht. „Natürlich habe ich das nie so gesehen. Doch andere tun es. Andere Menschen.“
Ambra nickte. Es gab kaum Gelegenheiten, wo sie andere Menschen traf. Sie lebten so abgeschieden, dass nur wenige Bittsteller den weiten Weg zu ihnen wagten. Manchmal besuchte sie mit Robina das nächstgelegene Dorf, das etwa einen halben Tagesmarsch entfernt war, um ihre selbst gefertigten Arzneien gegen Getreide und etwas Fleisch zu tauschen. Bei diesen seltenen Begegnungen wurde Ambra immer mit Misstrauen gemustert.
Sie glauben, die Götter haben mich verflucht und jeder, der mit mir in Berührung kommt, zieht Unglück auf sich.
Die alte Frau holte tief Luft. „Ich glaube, andere Menschen bedeuten keine so große Gefahr. Es ist die Lichtmagie.“
Was meinst du damit? , bedeutete ihr Ambra in der Zeichensprache, in der sie sich mit Robina verständigte. Die beiden hatten sie gemeinsam entwickelt.
„Ich habe dir erklärt, wie du meine Magie und die der meisten Heiler verstehen kannst. Das ist so, als ob ich die Lebenskraft der Lebewesen sehen könnte, die durch sie fließt. Ich merke auch, wenn sie unterbrochen ist und kann sie in den meisten Fällen so lenken, dass sie sich wieder zusammenfügt. Lichtmagier dagegen sind zu viel mehr imstande. Sie können diese Lebenskraft an sich ziehen, anderen Wesen ihren Willen aufzwingen und sie können sogar Kraft aus der Luft und dem Licht holen und sie nach ihrem Gutdünken gebrauchen. Es gibt nicht mehr viele, die das zuwege bringen und das ist gut so. Denn die meisten von ihnen nutzten diese Gabe zum Verderben der Menschen.“
Ambra musste den Blick abwenden. Der sorgenvolle Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Ziehmutter machte ihr Angst.
„Es ist Lichtmagie, die mich immer öfter heimsucht“, wisperte Robina. „Starke Lichtmagie. Ich vermag ihr kaum mehr zu widerstehen. Jemand sucht etwas. Ich ahne, was es ist.“
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