Arunis hatte sie geheißen, sich erst in einem Tagesmarsch nach Osten zu wenden, entlang der Hügelkette oberhalb des Danur, dann nach Norden in die Wälder von Fan. Ein mühsamer Weg, denn ab da lagen zwischen ihr und der Grenze von Sumar mindestens sieben Tagesmärsche. Tiefe Schluchten, rauschende Bäche und riesige Felsblöcke würden ihr Vorwärtskommen erschweren, es gab kaum Pfade in dieser Wildnis. Doch auch ihre möglichen Verfolger hätten mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen und hatte sie erst einmal die Grenze überschritten, mochte sie für eine Weile in Sicherheit sein. Solange niemand ihr Geheimnis kannte.
Sie wischte mit dem Handschuh die Tränen fort, die unablässig über die Wangen liefen. Beinahe blind stolperte sie weiter. Der Schmerz, Robina verlassen zu müssen und gleichzeitig zu wissen, dass die alte Frau dem Tod geweiht und sie sie nie mehr wiedersehen würde, war nicht zu ertragen. Arunis trieb sie unbarmherzig an. Sein anfängliches sanftes Flüstern hatte sich in ein schneidend kaltes Zischen verwandelt, das in den Ohren und hinter der Stirn schmerzte.
Geh! Weiter! Geh!
Bleib nicht stehen! Sieh dich nicht um!
Folge diesem Wildpfad!
Nein, nicht über den Hügel. Hier fällt deine Spur zu sehr auf! Geh entlang des Baches!
Willst du, dass Robina umsonst stirbt?
Sie opfert sich für dich.
Ambra blieb abrupt stehen. Der bittere Sturm, der in ihrem Herzen tobte, lechzte nach Befreiung.
Für mich? Bestimmt nicht! Wohl eher für dich! Sie gibt ihr Leben für eine dumme, kleine Flasche! Was bist du schon? Ein nutzloser Geist!
Wieder flossen Tränen und diesmal fehlte ihr die Kraft, sie abzuwischen.
Wie soll ich ohne sie leben? Ich bin doch verloren ohne sie!
AMBRA! Arunis’ Stimme gellte in ihrem Kopf, brennender Schmerz raste durch ihre Ohren, für einen Moment glaubte sie, taub zu sein. Sie öffnete den Mund zu einem lautlosen Schrei. Au! Du tust mir weh! Lass mich endlich in Ruhe! Es ist alles deine Schuld! Hör auf, mich zu quälen, sonst werfe ich dich in die nächste Schlucht. Es gibt hier genug davon, niemand wird dich jemals mehr finden! Oder ich begrabe dich in einem Erdloch, viele Klafter tief! Es würde mir Freude bereiten, es mit eigenen Händen zu schaufeln und dich darin zu versenken!
Sie atmete tief durch, erschrocken über ihren eigenen Zorn. Der Schmerz ließ schlagartig nach, nur zu deutlich spürte sie jetzt das Vibrieren der Flasche. Robina hatte darauf bestanden, dass sie sie an einer Kette um den Hals tragen sollte. Ambra war von Anfang an die Vorstellung zuwider gewesen, dieses merkwürdige Wesen zwischen ihren Brüsten auf der Haut zu spüren, aber ihre Ziehmutter hatte so flehentlich darauf bestanden, dass sie ihr nicht widerstehen konnte. Bei der nächsten Gelegenheit würde sie das blöde Ding abnehmen und zuunterst in ihrem Tragebeutel verschwinden lassen.
Hörst du? Ich habe es satt, mich von dir herumkommandieren zu lassen!
Zu ihrer Verwunderung schwieg Arunis still.
Oder sollte ich vielleicht deine Flasche gegen einen Felsen schmettern, dass sie in tausend Stücke springt? Wärst du dann endlich tot? Soll doch dieser Lichtmagier die Scherben aufklauben und sehen, was er damit tun kann!
Ein leises Lachen kitzelte plötzlich ihr Inneres. Tut mir leid, Kleines. Diese Flasche kann nicht zerstört werden. Weder von Magier- noch von Menschenhand und bestimmt nicht von deiner. Und falls du es noch nicht begriffen hast: Ich bin ein Geist und somit unsterblich.
Ambra hielt inne. Ihr Zorn war mit einem Mal verflogen. Unsterblich? Das bedeutet …?
Ja. Wenn ich Pech habe, verbringe ich noch Äonen in diesem Ding.
Sie versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, in einem so engen Behältnis hausen zu müssen. Der Gedanke verursachte ihr Atemnot.
Oh ihr Götter! Wie lange bist du denn schon da drin?
Der Geist seufzte.
Länger als sich ein sterbliches Wesen das vorstellen kann.
Täuschte sie sich oder zitterte Arunis’ Stimme tatsächlich? Bevor sie darüber nachdenken oder etwas erwidern konnte, sagte er schon: Wir dürfen uns nicht aufhalten. Du siehst sicher ein, dass wir so weit wie möglich von Robina entfernt sein müssen, wenn der Lichtmagier kommt.
Ambra versuchte den Kloß in ihrem Hals zu ignorieren und nicht an ihre Ziehmutter zu denken, die sie ganz alleine in ihrer Hütte zurückgelassen hatten. Ja, ich weiß. Aber dieser Lichtmagier wird mich ohnehin finden, oder nicht? Wozu die Mühe, überhaupt zu fliehen? Es ist schwierig, in diesem Schnee unauffällig vorwärts zu kommen, auch wenn ich noch so sehr darauf achte, keine Spuren zu hinterlassen.
Nicht, wenn der Schneesturm sie verweht.
Der Schneesturm? Erschrocken starrte sie zum Himmel. Sie konnte nur ein Fleckchen Hellgrau zwischen den Bäumen ausmachen.
Du kannst es nicht sehen, doch im Norden steigt eine dunkelgraue Wolkenwand auf. Du wirst noch weitergehen können, bis die Dämmerung kommt, dann wirst du einen Unterschlupf suchen müssen.
Eine eiskalte Hand griff nach ihrem Herzen, als ihr bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte: Alleine in stockfinsterer Nacht, dem Toben der Elemente ausgesetzt, nur mit diesem – diesem Ding als Begleiter.
Sie starrte auf die riesigen Baumstämme, hatte plötzlich das Gefühl, als wären sie drohend zusammengerückt. Auch schien es ihr viel dunkler als zuvor. Wie klein und ohnmächtig sie doch war! Wie sollte sie diesem Lichtmagier standhalten? Er würde sie finden, ganz gewiss. Das Krächzen eines Raben durchschnitt die Stille und sie fuhr zusammen. Rief Rakati, der Gott des Todes, schon nach ihr?
Ambra!, flüsterte Arunis. Die Flasche vibrierte leicht und schenkte ihr sanfte Wärme, holte sie aus ihrer Starre. Verlier nicht den Mut. Du bist etwas Besonderes, weißt du das nicht? Zusammen werden wir allen Gefahren trotzen. Wir werden beide unsere Bestimmung finden, wie die auch immer sein mag. Vertrau mir!
Ambra lächelte bitter. Du hast leicht reden. Was soll dir schon geschehen? Einem unsterblichen Geist … Gleichzeitig bereute sie den Gedanken sofort. Sie hätte niemals mit Arunis tauschen mögen. Sie straffte ihre Schultern. Also gut. Ich vertraue dir. Naja, ein bisschen wenigstens.
Arunis lachte leise und sie wunderte sich über das warme Gefühl, das sie plötzlich durchströmte. Vielleicht war es doch nicht so übel, einen Flaschengeist zum Begleiter zu haben …
***
Ambra war tapfer gelaufen, selbst, als sie dem Zusammenbruch nah war. Zum Schluss hatte sie kaum noch reagieren können, so kalt und steif waren ihre Gliedmaßen. Arunis war besorgt, dass Ambra hier draußen jämmerlich erfrieren könnte oder vielleicht Zehen und Finger verlor, darum hatte er sie gnadenlos angetrieben. Der Wind heulte wie eine Meute hungriger Wölfe, längst war es dunkel geworden. Zum Schluss hatte Arunis sie geführt, ihr bei jedem Schritt geistig gezeigt, wo sie ihn setzen musste. Nun versagten ihre Kräfte endgültig, Ambra sank in die Knie.
Kann nicht mehr!, dachte sie matt. Schnee peitschte ihren zierlichen Körper, der aufgehört hatte zu zittern. Arunis wusste, was das bedeutete: Ohne Hilfe würde Ambra niemals wieder aufstehen können.
Nimm meine Flasche in die Hand, befahl er. Ambra versuchte es, doch ihre Arme gehorchten nicht. Verzweifelt durchdrang Arunis die Umgebung mit seinen Sinnen. Irgendetwas, irgendjemand musste hier sein, um Ambra zu retten! Er hatte Robina geschworen, auf sie aufzupassen.
Als er ein Bärenweibchen im Winterschlaf entdeckte, frohlockte Arunis vor Erleichterung. Seine Macht war gefesselt, solange er sich in der Flasche befand, aber mit der geistigen Kraft seines Besitzers konnte er die Welt wahrnehmen und in geringem Maße auch beeinflussen. Ambras Kräfte zerfielen, er musste sich sehr beeilen. Zum Glück war das Weibchen durch Schlaf und Hunger zu schwach, um ihm zu widerstehen. Brummend tapste es in den Sturm hinaus, um Arunis’ Ruf zu folgen. Ihre beiden Jungen blieben zurück, sie schrien ängstlich nach ihrer Mutter. Die konnte sie nicht hören, ihre halbschlafenden Sinne waren von Arunis gebannt.
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