Anna begibt sich zu der bezeichneten Lichtung und sieht sich den von Wildschweinen zerwühlten Rasen an. »Wieso diese Panik, bist du nicht in der Lage deine alte Frau vor kannibalischen Ebern zu beschützen?«, lautet ihre provozierende Frage.
Kays grienende Erwiderung: »In der Lage wäre ich schon, ich weiß allerdings nicht, ob mir das Wildschwein einen Gefallen täte!«, führt zu einer abrupten Kehrtwendung.
Die Prinzessin ist eingeschnappt und stampft durch das hohe Gras zurück zum Auto. Sie greift zur Wagentür, will diese öffnen und sich hinsetzen. Sie fasst nochmals zu und zieht energischer am Griff. Abgeschlossen! In diesem Moment ist ihre Wut verflogen und sie muss lachen: »Ich glaube du verriegelst deine Habseligkeiten auch, wenn du dich allein auf dem Mond befindest. Hast du davon gehört, dass Wildschweine besonders gern mit roten Autos fahren?«
Der Herr winkt ab, antwortet nicht, da er keine Lust auf solche Diskussionen, sondern kolossalen Hunger hat. Es ist halb sieben, sie sind erschöpft und ein ereignisreicher Tag liegt hinter ihnen. Der Fahrer ist mit seiner Geduld am Ende, greift zum Handy und ruft Herbert und Chris an. Diese lassen sich beschreiben, wo sich die Ausflügler aufhalten. Die ratlose Antwort: »Keine Ahnung! Im Wald! Auf einer Lichtung im Unterholz!«
Chris lacht auf der anderen Seite herzhaft. »Wartet zwei Minuten, wenn ihr die richtige Abfahrt genommen habt, dann finde ich euch!«, antwortet sie hoffnungsvoll.
Und tatsächlich, nach einigen Minuten taucht Chris wie aus dem Nichts zwischen Bäumen und Sträuchern auf, wird jubelnd begrüßt und führt die Verlorenen zu ihrem Sommerhäuschen. Kay stellt sachlich fest, dass sie mehrmals drum herum gelaufen sein müssen. Die Prinzessin glaubt allerdings mehr an einen dichten Zauberwald, so versteckt und idyllisch liegt das Wohngebäude auf einer kleinen Waldlichtung. Sie flüstert ihrem Freund zu: »Die Beiden haben nach deinem Anruf kurz an Aladins Lampe gerieben und sind aus der Versenkung zum Vorschein gekommen! Anders hätten sie uns niemals so schnell finden können. Schau, das Gras ist frisch gemäht und die Fackeln am Weg bis zum Haus sind gerade angezündet worden.«

Der junge Mann schaut sich flüchtig um und bemerkt ebenso leise: »Ja, wir hatten viel Glück, denn in diesem undurchschaubarem Dickicht konntest du dem Überfall der Wildschweine nur entgehen, weil vor uns die Häscher von Alibaba durch den Wald gestreift sind. Im Gegensatz zu uns haben sie die falsche weiße Plastiktüte als Wegweiser erwischt und wütend bei ihrer Suche nach Alibaba alle wilden Tiere vertrieben.«
»Ach, ja? Hast du neben den Wildschweinspuren auch Abdrücke von den Schergen des Kalifen im Dickicht entdeckt?«, lautet die schelmische Gegenfrage.
Chris hat bereits auf die Ankunft der Freunde gewartet und Abendbrot vorbereitet. Nach einer herzlichen Begrüßung und dem schmackhaften Essen machen alle zusammen einen netten Abendspaziergang und schauen sich die herrliche Umgebung des Sees
»Lange Birke« an. Ein steiler, schmaler Waldweg führt vom Haus hinab zum See. Mitten auf dem schmalen Trampelpfad entdecken sie ganze Kolonien von Pilzen.
Chris erzählt stolz: »Seit Wochen beobachte ich aufmerksam diese Pfifferlinge und beschütze ihr Wachstum. Aus diesen Pilzen werde ich ein schmackhaftes Mittagessen bereiten aber erst, wenn die Pilze groß genug sind, um geerntet werden zu können. Ich hoffe, dass niemand meine Pilzzucht entdeckt.«
Anna ist unsicher, ob diese Gegend tatsächlich so abgeschieden ist, dass die Wahrscheinlichkeit fremder Pilzsammler ausgeschlossen werden kann.
Leise flüstert Kay ihr ins Ohr: »Wildschweine fressen aus Verzweiflung sehr gern Pilze. Besonders, wenn ihr Lieblingsgericht, der Mensch, sich nicht in diese Wildnis verirrt!«
Anna stutzt. Zweifelnd schaut sie ihrem Freund in die Augen: »Irgendwie muss bei dir diese friedliche Abgeschiedenheit zoologische Wahnvorstellungen von Wildschweinen hervorrufen. Achte auf das Klopfen des Spechtes oder schau, da ist ein Eichhörnchen und da, die durch das Wasser flitzenden, stummen Fische!« Sie zeigt bei ihren Worten begeistert auf die malerische Umgebung.
Am Ufer des Sees stehen einige für Schweden typische Holzhäuser. Diese Häuschen sind in den meisten Fällen im »Schwedenrot« gestrichen. Hier sind sie in den Farben gelb und hellblau zu sehen. Es sind Wochenendhäuser und heute ist Donnerstag und niemand ist Zuhause. Am Ufer des menschenleeren Sees gibt es überall Zaubereien und Märchen, man muss sie nur sehen und entdecken.
Anna schleicht sich bei einem dieser Häuschen auf die übers Wasser gebaute Terrasse und setzt sich gemütlich auf die bereitgestellte Bank: »Ich stelle mir vor, wie mich der Besitzer einlädt, bei einem Glas Wein den Sonnenuntergang zu beobachten und dem Vogelgezwitscher zu lauschen. Idyllisch!«
Herbert erzählt, dass in diesem Haus Freunde von ihnen wohnen und sich die Vorstellungen sicher bewahrheiten würden, wenn die Eigentümer anwesend wären. Kay hingegen hat einige Meter weiter, im Dickicht unter den Bäumen eine Tränke der Wildschweine entdeckt und ruft Anna, um ihr die umgepflügte Wiese und die Wildschweinspuren zu zeigen. Er stellt sich vor, wie die Wildschweinhorde an der Badestelle zur Tränke kommt und die Borstentiere sich im Schlamm sielen. Große, massige Keiler mit scharfen Hauern und die kleinen, tapsigen Frischlinge wühlen genüsslich im Matsch! Annas Kommentar: »Männerfantasien!«
Auf dem Weg zurück zum Sommerhaus erzählen sie von Annas Eltern und von ihren gemeinsamen Freunden. Müde und aufmerksam lauscht das Paar den Berichten von Herbert und Chris über ihre Erlebnisse in Schweden. Während der Unterhaltung vergeht die Zeit wie im Fluge.
Plötzlich klingelt das Handy von Kay. Es ist Madam und sie erklärt, dass die »Brise« am Freitag gegen sechzehn Uhr in Stockholm – »Djurgården« im Hafen »Navishamn« festmachen wird. Der Freund notiert sich die Angaben genau. Sie sind ein wenig erstaunt über diesen Treffpunkt. Direkt Stockholm? Heimlich hatten sie gehofft, dass sie sich außerhalb Stockholms treffen würden, da sie annahmen, den Hafen dann leichter finden zu können, als in der Großstadt. Auch die eventuell zu erwartende Betriebsamkeit in den Häfen der Hauptstadt Schwedens verunsichert die Neuankömmlinge. Aber solche Gedanken und Bedenken haben bis morgen Zeit.
An diesem schönen Abend sitzen die Freunde zusammen auf der Veranda des Sommerhäuschens und breiten auf dem großen Esstisch Karten von Schweden, Pläne und den »Baedeker« aus. Die Karten werden hin und her gewendet, gelesen und alle versuchen, »Djurgården« zu finden, um zu bestimmen, welches die günstigste Zufahrt nach Stockholm sei. Es herrscht ein wenig Aufregung und Durcheinander, da weder ein ordentlicher Stadtplan von Stockholm, noch sonstige Hinweise auf diesen Ort, zu finden sind. Was ist Djurgården? Ein Stadtteil? Eine Insel? Ein Vorort? In diesem Wirrwarr wird klar, dass bessere Vorbereitung viele Nerven gespart hätte und Anna entscheidet: »Schluss jetzt! Es war ein langer Tag und morgen früh sieht alles weniger problematisch aus, dann finden wir in Ruhe die notwendigen Karten und Anhaltspunkte. Jetzt machen wir uns verrückt!«
Es ist vierundzwanzig Uhr bevor sie schlafen gehen und beschließen, am nächsten, späten Vormittag nach Stockholm aufzubrechen.
Anna übernachtet bequem in einem kleinen Anbau des Hauses, der mit Dusche und Sauna ausgestattet ist und der Chauffeur verbringt die Nacht auf den heruntergeklappten Sitzen des roten Autos. Anna begleitet ihn zu seiner Schlafstätte und verabschiedet sich: »Gute Nacht, mein Schatz und verriegele die Türen gut von innen, denn du weißt ja, dass die Wildschweine rote Autos lieben - besonders mit leckeren Insassen, die sie ja sooo selten in dieser Wildnis finden.«
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