von Rostock nach Pellemond
Pünktlich um 5.45 Uhr küsst der Chauffeur seinen Passagier wach: »Aufstehen, du Faultier! Das Bad ist frei! Vati hat schon gestern Abend den Frühstückstisch gedeckt.
Sei leise, es schlafen noch alle.«
Verschlafen rollt sich ein tapsiges Etwas aus dem Bett und tastet sich ins Bad. Sie klatscht sich kaltes Wasser ins Gesicht, und versucht zu lächeln. Dabei zieht sie eine verkrampfte Fratze, über die sie tatsächlich lachen muss. Langsam wird Anna wach und der Kaffeeduft aus der Küche sorgt dafür, dass sich die Müdigkeit verflüchtigt. Gut gelaunt frühstückt das Paar und packt danach die Schlafsäcke und die tiefgekühlten Esssachen ins Auto. Anna zappelt den ganzen Morgen aufgedreht herum. Sie nimmt die Wasserflasche vom Tisch und will sie aufschrauben, was ihrer Meinung nach viel zu schwer geht. Beim lauten Fluchen über die blöden Verschlüsse und die instabilen Buddeln, rutscht ihr die Flasche durch die Hände und knallt in einem hohen Bogen auf den Steinfußboden. Das Wasser spritzt in alle Richtungen. Der Zappelphilipp steht wie versteinert daneben, schaut an sich herunter und fummelt eine lockige Haarsträhne, die lustig vor ihrer Nase auf und ab wippt, hinters Ohr. Mit zusammengekniffenen Lippen betrachtet sie die Wasserpfütze, in deren Mitte sie steht.
»AAAnnaaa, Prinzessin, aufwachen! Der Feudel und der Eimer stehen hinter dem Vorhang! A u f w i s c h e n!«
Mit gedämpfter, aber sehr bestimmter Stimme versucht Kay seine Freundin zu entkrampfen. Mechanisch beseitigt diese die angestellte Ferkelei. Auch ihre Sachen sind klitschnass. Kay hat in aller Eile eine trockene Hose aus dem Seesack geangelt und reicht ihr diese zum Umziehen. Er versucht ruhig zu bleiben, da Annas Nervosität für beide reicht. Gerade, als sie sich leise von Ben verabschieden will, steht dieser verschlafen vor ihr und nimmt seine Mama lieb in den Arm: »Eine gute Reise euch beiden und kommt gesund wieder!«
»Danke, und du sei artig und mache keinen Unfug. Wir werden oft an dich denken. Gib Küsschen auf Mutti und schlafe ein wenig weiter!« Anna drückt ihren Liebling fest an sich und ist traurig bei dem Gedanken, ihre Jungs einige Wochen nicht zusehen. Ob es ihnen ähnlich geht?
Vielleicht sollte hier erwähnen werden, dass Annas »kleines« Kind 18 Jahre alt ist, aber zu seinem Leidwesen für seine Mutter immer der ‚Kleine’ bleiben wird. Sie gibt offiziell zu, dass es ihr, trotz seiner Größe von 1,80 Meter, schwerfällt zu akzeptieren, dass er ein selbstständiger erwachsener Mann ist, der zielstrebig seinen eigenen Weg geht. Sie weiß, dass sie loslassen muss und dankt ihm insgeheim dafür, dass er ihre mütterlichen Beschützerattacken mit sehr viel Humor erträgt. Er grinst, als sie sich etwas traurig von ihm verabschiedet. Auch die Männer nehmen sich in den Arm und wünschen sich alles Gute.
Dann steigen die Abenteurer ins Auto und ihre große Reise beginnt. Ohne Stau und Verzögerungen kommen sie im Transithafen Rostock an. Viele große Fährschiffe liegen am Kai und werden beladen. Anna sitzt schmunzelnd auf dem Beifahrersitz. Ohne die Prinzessin anzusehen, fragt Kay: »Na, was gibt es Lustiges zusehen?«
»Ich glaube, dass du das nicht wissen möchtest!«, antwortet sie gelangweilt.
»Doch, doch, denn dieses Grinsen kenne ich nur zu gut!«, bemerkt der Fahrer und schaut sein Mädchen skeptisch von der Seite an.
Sie lacht laut auf und weist auf Folgendes hin: »Na ja, das dort vor uns ist auch Kai! Und wenn ich mir vorstelle, dass diese riesigen Schiffe bei einem nächtlichen Sturm am K a y befestigt sind und wie verrückt an deinen Armen und Beinen zerren und du sie auf keinen Fall loslassen darfst, dann sehe ich dein verkrampftes Gesicht. Na so, wie eben, als dir der kleine Polo die Vorfahrt genommen hat. Stell dir vor, all diese Lastkraftwagen fahren über Kays Bauch, um in die Fähre zu gelangen! Die Motorräder rasen geradewegs über deine Brustwarze und springen dabei einige Meter durch die Luft. Oder in der Nähe deines Bauchnabels ist die Zollstation und ein sicheres Leit- und Navigationssystem installiert. Jedes Fahrzeug muss eine Runde um deinen Bauchnabel drehen. Und ...?«
Mit einem langgezogenen: »Oh, oh, womit habe ich solche Fantasien verdient? Kennt deine Vorstellungskraft Grenzen?«, unterbricht der Beschriebene ihre reizvollen Schilderungen.
»Stimmt! Eigentlich hast du solche Schwärmereien nicht verdient, du bist viel zu sachlich!«, blubbert die Träumerin und damit ist ihre Mitteilungsbereitschaft beendet.
Durch ein übersichtliches Leitsystem geführt, steht das rote Auto um 7.30 Uhr in der Warteschlange zum Abfahrtsterminal der Scandlines. Große Lastkraftwagen, Wohnwagen, Transporter und Personenwagen werden, wie von Geisterhand zu ihren Plätzen in der Fähre geleitet. So gelangt das rote Auto in den Bauch der Fähre, zum Parkplatz.
»Ju huuu! Wir fahren als Glied einer langen, bunten und gefährlichen Schlange vom Kai über eine eiserne Gangway in den riesigen Bauch eines dunklen, engen Ungetüms! Freiwillig! Wir werden vom Scheusal gierig verschlungen und sind ohne Hoffnung, jemals wieder ans Tageslicht zu gelangen«, fliegen die Gedanken der Träumerin froh gelaunt, aber ganz leise durch die Luft.
Die Urlauber merken sich die Nummer der Parkebene auf der sie stehen, steigen angestrengt aus dem Wagen und drängeln sich durch die dicht an dicht stehenden Fahrzeuge an Deck.
Heute ist die Luft kühl und der Himmel bedeckt. Ein trüber Morgen. Trotzdem ist die Fahrt auf der Warnow aus hoher Sicht von der Fähre und die Ausfahrt aus Warnemünde ein tolles Erlebnis. Diese andere Perspektive beeindruckt die Fahrgäste. Die Mole, der Leuchtturm, der Teepott, das Neptunhotel und der neue Yachthafen sehen fremd und ungewohnt aus. Die Prinzessin versucht sich in die Gedankenwelt von Touristen zu versetzten, die aus New York kommen und Warnemünde zum ersten Mal in ihrem Leben besuchen. Dieser Anblick des kleinen Fischerdorfes vom Deck eines riesigen Luxusliners ist mit Sicherheit ein bleibendes Erlebnis.
Die Überfahrt von Deutschland nach Dänemark ist windig, aber ruhig. Um kurz vor elf Uhr kommt die Fähre in Gedser an. Anna und Kay bleiben solange wie möglich an Deck, um den Hafen und das Anlegen der Fähre beobachten zu können.
Dann gehen sie zu ihrem Auto. Besser gesagt, sie WOLLEN zu ihrem Auto gehen. Auf der Fähre gibt es viele gastronomische Einrichtungen, einen umfangreichen Verkaufsshop und mehrere Aufenthaltsgelegenheiten, die sie sich angesehen haben. Bei der Vielzahl der Decks und Aufzüge hat Anna schnell die Orientierung verloren, obwohl sie sich die Bezeichnung ihres Parkdecks genau gemerkt hat. Alle Auf- und Niedergänge sehen gleich aus. Sie hört die Motoren der ausfahrenden Wagen, wird unruhig und schaut sich suchend und kribbelig nach dem richtigen Weg um. Sie müssen so schnell wie möglich zum Auto, sonst blockieren sie die Abfertigung. Kay ist derweilen sehr gelassen, nimmt seine nervöse Frau resolut an die Hand und zieht sie in die entgegengesetzte Richtung: »Komm schon Prinzessin, das unfehlbare Navigationssystem um Kays Bauchnabel bringt dich zum Auto! Wir müssen uns beeilen, denn die Fähre hat angelegt und die ersten Autos verlassen das Schiff.«
Anna grinst, ihr Mann sucht den richtigen Aufzug und nach wenigen Augenblicken sind sie am roten Wagen. So verlassen sie die Fähre und fahren auf dänischem Boden immer geradeaus in Richtung Norden, vorbei an Kopenhagen nach Helsingör. Dort angekommen, um dreizehn Uhr, wartet die Fähre nach Schweden und ohne Stopp wird eingecheckt.
Als das Pärchen an Deck ist, hat die Fähre bereits abgelegt und sie können das Schloss von Helsingör sehen. Majestätisch liegt das gewaltige Bauwerk am Ufer der Hafenausfahrt. Das mächtige Renaissanceschloss Kronborg wurde von William Shakespeare zum Schauplatz seines »Hamlet« erkoren und ist eines der größten Touristenmagneten Dänemarks. Dieser Anblick ist von weiter See beeindruckend!
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