
Nach dreißig Minuten Fährenfahrt landen sie in Schweden, in Helsingborg. Schon von weitem können sie das Wahrzeichen der Stadt, den Backsteinturm Kränan, erkennen. Seit dem 12. Jahrhundert wacht er darüber, dass nur, wer in günstiger Absicht kommt, passieren darf. Anna und Kay werden eingelassen und können ihre Fahrt auf der Europastraße 4 nach Jönkoping fortsetzen.
»Wir müssen jetzt immer am Westufer des großen Seens entlangfahren. Hast du das Ortseingangsschild von Jönkoping gesehen? Dieses Städtchen legt sich um den schmalen Vättern-Südzipfel.«
Kay hört seiner Beifahrerin nicht richtig zu, da er aufmerksam hinter einem langen Holztransporter herfährt: »Hast du jemals solche mächtigen Baumstämme gesehen? Die werden bestimmt zu den hohen Schornsteinen dort hinten in die Streichholzfabrik gebracht.«
Anna, die eine Landkarte von Schweden auf dem Schoß liegen hat, liest und erklärt weiter: »Der Vätternsee ist mit 1900 Quadratkilometern der zweitgrößte See Schwedens. Hier in Jönkoping wurden im Jahre 1848 die Streichhölzer erfunden.«
»Wie wohl aus dem riesigen Baumstamm ein Streichholz wird? Aber Streichhölzer werden sicherlich aus Restholz hergestellt und dazu werden nicht solche tollen, dicken Baumstämme verwendet. Ob es ein Streichholzmuseum gibt?«
Anna schiebt die Karte auf ihrem Schoß zur Seite, überlegt und antwortet sicher: »Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass in Streichholzfabriken ganz viele, kleine zerknirschte Männchen angestellt sind, die in aufwendiger Kleinarbeit die Streichhölzer mit der Hand schnitzen, die Spitze in Schwefel tauchen und warten, bis dieser Zündkopf getrocknet ist. Dann legen sie die Stäbchen in die Streichholzschachteln. Das Schwierigste ist, sich dabei nicht zu verzählen und immer die gleiche Anzahl an Hölzern, in eine Schachtel zu legen. Was meinst du, wie viele Streichhölzer können diese Wichtel aus dem Baum vor uns herstellen?«
Diese Frage wird nicht beantwortet. Der Transporter biegt links ab und sie fahren auf der Westseite des Vättern bis nach Karlsborg.
Dort machen sie einen Zwischenstopp und besichtigen die große Garnison, die militärischen Zwecken dient. Bei ihrem Rundgang begegnen ihnen Männer in Uniformen und sie entdecken abseits die alten Kasernen. Prinzessin erklimmt die von einem Wehrgang begleitete Umfassungsmauer, die mit 678 Metern eine der längsten Wehrmauern in Europa ist. Von dort oben kann sie einsehen, dass die weitläufig angelegte Festung sich auf einer in den See ragenden Landspitze befindet. In der südwestlichen Festungsmauer ist die Garnisonskirche integriert, unter der sich ein wehrtechnisches Museum befindet. Am Eingang des Museums ist eine Zeittafel angebracht auf der sie erkennen kann, dass diese Anlage von 1819 bis 1909 erbaut wurde.

Der Fahrer wird ein wenig ungeduldig, als sich seine Begleiterin von den ehrwürdigen Gemäuern kaum trennen will. Sie haben für umfangreiche Besichtigungen keine hundert Jahre Zeit. Kaum hat sich Kay umgedreht, sitzt Anna auf dem Rohr einer großen Kanone, die vor dem Museum steht und bettelt: »Nun mach schon ein Foto, kannst dann immer behaupten, dass du deine Prinzessin vor dem Abschuss gerettet hast!«
Bei der Ausfahrt aus Karlsborg gerät das rote Auto in einen Verkehrsstau und nach einigen Minuten stellen sie fest, dass die Straßenbrücke, bei der der Göta-Kanal den Vättern verlässt, geöffnet ist. So haben sie einen Augenblick Zeit, sich die Durchfahrt der Schiffe auf dem Göta-Kanal anzuschauen. Anna liest in ihrem »Baedeker«: »Der Göta-Kanal verläuft von Stockholm bis zum Ostufer des Värner, dem größten See Schwedens. Und von dort gelangt man an die Westküste von Schweden. Der Kanal hat eine Länge von 190 Kilometern und an den 58 Schleusen wird ein Höhenunterschied von 92 Metern überwunden.«
»Dagegen ist der Störkanal zur Müritz ein kleiner Pups!«
Dann fahren sie weiter auf der Straße Nr. 49, die nach Aussage des Fremdenführers, eine der landschaftlich schönsten Straßen Schwedens ist. Beide Reisende staunen über Felsen und riesige, nicht enden wollende Wälder.
Aus heiterem Himmel stößt die Prinzessin Kay aufgeregt in die Seite und schnauzt ihn an: »Schau da, da ist die weiße Plastiktüte. Wir müssen links abbiegen! Pass doch auf!«
Kay, der sich die Wegskizze vom Vater genau eingeprägt hat, widerspricht: »Hast du bis jetzt geschlafen? Während der gesamten Fahrt sind uns überall am Straßenrand weiße
Plastiktüten begegnet. An fast jeder Abbiegung hängt so´n Ding. Wenn wir dieses Zeichen nicht als Wegmarkierung ausgemacht hätten, würde ich an der Ordnungsliebe und dem Umweltschutzgedanken bei den Schweden erheblich zweifeln.«
Anna stutzt verzagt: »Ja, stimmt. Ich komme mir vor, wie im Märchen von Alibaba und seinen vierzig Räubern. Das vereinbarte Zeichen von Alibabas Feinden ist ein Kreuz auf seiner Tür. Um seine Häscher zu täuschen, zeichnet Alibaba auf alle Türen ein Kreuz. Und genau so haben in Schweden alle Waldeinfahrten eine weiße Einkaufstüte als Erkennungszeichen. Vielleicht wollen die keinen Besuch! Die Einfahrten liegen zum Teil so versteckt im Gebüsch, dass sie ohne diese eigenartigen Wegweiser, kaum auszumachen sind. Wie sollen wir jemals die richtige Abfahrt finden?«
Der Chauffeur ist optimistisch. Nach wenigen Kilometern biegt er links ab und behauptet, die richtige Tüte zur beschriebenen Abfahrt nach Pellemond, dem Sommerdomizil von Herbert und Chris, ihrem Tagesziel, gefunden zu haben.
Anna ist skeptisch: »Ich weiß ja, dass Wegbeschreibungen von Vati genau und präzise sind, aber mit diesem undurchdringlichen Urwald habe ich nicht gerechnet. Es war zwar eine weiße Einkaufstüte an der Kreuzung ohne die wir den klitzekleinen Waldweg in den du eingebogen bist, bestimmt nicht gefunden hätten. Aber diese Einsamkeit? Bist du dir sicher, dass tatsächlich diese Tüte die richtige war? Hier wohnt kein Mensch. Vielleicht ein Elch?«
Kay schweigt, was bedeutet, dass er sich sehr sicher ist, den korrekten Weg gefunden zu haben. Die Fahrt führt einige Kilometer weiter durch Schwedens Wildnis. Keine befestigte Straße, nur ein festgefahrener Waldweg und ganz vereinzelt erkennen sie Zeichen der Zivilisation. Sie fahren durch diesen verlassenen Dschungel und entdecken gelegentlich eine Lichtung auf der ein einsames Häuschen steht. Auf dem Rasen vor diesem Wohnhaus liegen ein Kinderroller und ein Fahrrad im Gras, bestimmt schon seit Tagen oder sogar Wochen. Entgegen dieser scheinbaren Betriebsamkeit, ist weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Nach weiteren Kilometern herrlicher Verlassenheit ist dieser Weg zu Ende. Macht es Sinn, einen, wenn auch kleinen Weg zu befestigen, der im Nichts endet? Eine Sackgasse ohne Hinweisschild, ohne Vorwarnung und ohne Wendemöglichkeit? Kein »Nur für Anlieger«, kein »Gesperrt«. Wozu hat die Menschheit Straßenhinweisschilder erfunden?
Vor ihnen Büsche, hohes Gras und Gestrüpp. Kay sieht Anna fragend an, diese zuckt ratlos mit den Schultern. Sie steigen aus dem Wagen und versuchen zu Fuß, ein Haus oder einen Menschen ausfindig zu machen. Ohne Erfolg. Die Prinzessin ist trotzdem begeistert über alles, was sie sieht, diese einsame Natur, nur Felsen, Wald und Buschwerk, doch ihr Begleiter droht: »Pass auf, dass dich kein Elch aufs Geweih nimmt oder dich ein Wildschwein auf den nächsten Baum jagt! In dieser Abgeschiedenheit gibt es viele wilde Tiere. Schau hier sind ihre Spuren!«
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