„Ich mich auch“, stimmte Hans zu und der knurrende Magen unterstrich den Standpunkt des Jüngsten.
Da sie sich gegen den Herrn versündigen würden, stimmten die Brüder Baumgart demokratisch darüber ab und so wurde Karls Widerwillen überstimmt. Auch derjenige, der ihre Schnappsäcke notfalls mit langen Fingern füllen sollte, war rasch gefunden. Der 15-jährige Hans war der kleinste, schnellste und hatte die schärfsten Augen von ihnen. In der Gegend von Schmelz fanden sie genügend kleinere Gehöfte und ihr Hunger war groß genug, um den Versuch zu wagen. Ihre Wahl fiel auf einen kleinen Hof, der, wie ihr elterlicher, in einem kleinen Seitental lag. Dieser hier war auf drei Seiten von dichtem Wald umgeben. Neben Bauernhaus, Stall und einem Heuschober fiel ihr Augenmerk auf mehrere Gehege, in denen laut gackernde Hühner herumliefen. In einer kleinen Suhle neben einem Trog wälzten sich mehrere Schweine und Ferkel. Auch auf dem Hof selbst liefen einige Hühner frei herum. Einen Hund sahen sie nicht und auch keine Menschenseele.
„Frei laufende Hühner“, sinnierte Friedrich. „Da braucht man nicht einmal in ein Gehege. Da müsste man schon ein oder zwei abgreifen können.“
So setzten sich Friedrich und Karl auf den Boden eines Hanges, in der Deckung von Büschen und Bäumen, und konnten so aus guter Deckung den Hof beobachten, während Hans sich daran machte, ein oder zwei der Hühner in ihr Eigentum zu überführen. Eigentlich sollte der Jüngste, im Sichtbereich der Brüder, ebenso rasch zugreifen wie auch wieder verschwinden. Aber Hühner sind flink und laut, wenn sie das Gespür haben, dass es um ihren Hals geht. Die beiden älteren Baumgarts mussten unwillkürlich lachen, als sie die Versuche des Jüngsten sahen, eines der Tiere habhaft zu werden. Immer wieder entwischte das Objekt der Begierde und hinterließ in der Luft schwebende Federn.
„Da kommt wer.“ Karl richtete sich halb auf und deutete auf das Haus hinunter. Dort war jemand aus der Tür getreten und wollte feststellen, was der Tumult zu bedeuten hatte. „Entweder packt Hans es jetzt oder er muss den Rückzug antreten.“
Sie sahen, dass Hans wie unter einem unsichtbaren Schlag zusammenzuckte, aber sie hatten keinen Schuss gehört. Ihr Jüngster blieb stehen und rieb sich den Arm. Der Mann vor dem Haus trat auf ihn zu. Nein, kein Mann.
„Herr im Himmel“, seufzte Friedrich. „Das ist ja noch ein Knirps.“
Der Junge mochte acht Jahre alt sein. Aber er schien keinerlei Furcht vor dem größeren Hans zu haben. Sie sahen, wie die beiden miteinander sprachen, konnten jedoch nichts verstehen. Karl nahm missmutig einen kleinen Zweig und zerbrach ihn. „Er bräuchte dem Kleinen nur einen ordentlichen Schubs zu geben und wir hätten das Huhn.“
„Sich mit dem Burschen prügeln?“ Friedrich sah seinen Bruder vorwurfsvoll an. „Was ist mit dir los, Karl? Soll Hans sich an einem Wehrlosen vergreifen?“
„Er oder wir“, sagte Karl bestimmt. „Wir brauchen was zu essen.“
„Gott im Himmel, bist du wahnsinnig?“ Friedrich wollte es kaum fassen. Sicher, Karl und Hans waren immer ein wenig heißblütig, doch der Gedanke, sich an einem Kind oder einer Frau zu vergreifen, war ihm unvorstellbar. Er wies mit einer ausholenden Geste um sich. „Wir haben Pilze, Beeren, essbare Blätter und Wurzeln. Wir müssten nicht verhungern.“
Das Wild erwähnte Friedrich nicht. Wild gehörte immer zu irgendeinem Herrschaftlichen, der das Jagdrecht hatte. Und bei Wilderern machte man noch immer kurzen Prozess. Da waren die Herren unnachgiebig.
„Die gehen ins Haus“, stellte Karl fest.
„Was?“ Friedrich blickte wieder hinunter zum Hof und sah gerade noch, wie Hans und der Junge im Haus verschwanden. „Herr im Himmel, was ist denn nun los?“
Karl erhob sich. „Wir müssen runter und ihm helfen.“
„Warte noch.“ Friedrich beobachtete einen Mann, der aus dem Heuschober trat und nun kopfschüttelnd zum Haus hinüber ging. Der Mann sah kräftig aus und trug eine Forke, die selbst auf diese Entfernung beunruhigend aussah. Doch der Mann stellte sie neben den Eingang des Hauses, bevor er eintrat.
Eine ganze Weile später trat Hans aus dem Haus, blickte zum Hang hoch, wo seine Brüder warteten und winkte unbefangen. Dann kam er zu ihnen herauf. Seine Brüder bestürmten ihn mit Fragen. Hans grinste sie an und öffnete seinen Schnappsack. Er hatte einen frischen Laib Brot darin und auch eine halbe Wurst und etwas Käse.
„Der Junge hat dir wohl den Schneid abgekauft“, sagte Karl und biss herzhaft in ein Stück Wurst. „Was war da los?“
„Der Bursche hat eine Schleuder und weiß damit umzugehen“, sagte Hans lachend. „Aber wir haben Glück. Sie haben einen Sohn, der war bei Struves Freischärlern.“
„Ist nicht wahr.“ Karl sah auf den Hof hinunter. „Gott, ich hätte selbst hinunter sollen.“
„Ja, mit deinem Zweispitz“, bestätigte Friedrich. „Beim nächsten Hof sollten wir das vielleicht machen.“
„Beim nächsten Hof sind es vielleicht Königstreue“, warf Hans ein. „Dann würde es kein Brot geben, sondern Keile.“
Friedrich leckte sich die Finger ab. „So, Brüder. Jetzt gehen wir hinunter zu ihnen und bedanken uns. Vielleicht können wir ihnen ein wenig zur Hand gehen.“
Hans und Karl sahen ihn verwundert an. Doch dann nickten sie.
So schlugen sie sich durch. In stillem Einvernehmen war der Vorsatz, notfalls zu stehlen, aufgegeben worden. Irgendwie schafften sie es immer, für Tagelohn zu arbeiten und eine Mahlzeit zu bekommen. Notfalls ernährten sie sich von den Früchten des Waldes und manchmal hungerten sie auch. Aber sie erreichten die Grenze zur Republik Frankreich und überschritten sie im Winter.
Nach Süden hin hätten sie wohl über die steilen Gebirge und die wenigen Pässe gemusst. Doch hier war die Grenze von niedrigen Bergen, sanften Hügeln und Wald bestimmt. Es war leicht, die Grenzpatrouillen zu umgehen und französischen Boden zu betreten.
„Die Wiege der Demokratie“, sagte Karl andächtig. Sie standen auf einem kleinen Berg, den sie gerade erklommen hatten und blickten auf das Land, das sich vor ihnen ausbreitete. „Hier hat sich das Volk zum ersten Mal gegen den König erhoben.“
Friedrich schnaubte durch die Nase. „Amerika war´s. Ich hab es selbst gelesen. Da haben sich die englischen Kolonien gegen den König erhoben und ihre Freiheit erstritten. Gegen König Georg.“
„Meinethalben.“ Karl betrachtete seinen rechten Schuh. Die Sohle hatte sich gelöst und Karl hatte sie mit zwei Streifen aus seinem Hemd an den Schuh gebunden. Doch der lange Weg, der sie bis hierher führte, hatte den Stoff förmlich zerrieben. Karls Schuhe waren kaputt und seine Füße wund, doch das erging seinen Brüdern nicht anders. „Wir brauchen Schuhe.“
„Und was zu essen“, pflichtete Hans bei.
„Und Kleidung“, ergänzte Friedrich. „Gott, wir sehen aus wie eine Räuberbande. Wie Schinderhannes persönlich.“
„Dem seine Leute haben sich die Schuhe besorgt, wenn sie welche brauchten.“ Karl zog die fadenscheinige Jacke und sein Hemd aus und riss zwei neue Tuchstreifen ab. Sorgfältig befestigte er die Sohle aufs Neue.
„Dafür haben seine Leute und er auch alle einen langen Hals bekommen“, knurrte Friedrich. „Hier wird es schwer für uns.“
„Hier?“ Hans sah ihn fragend an. „Wieso hier? Hier jagt uns keiner mehr.“
Friedrich blickte über das Land. „Kann einer von uns das französische? Seht ihr? Wie sollen wir unsere Arbeit anbieten, wenn die Leute uns nicht einmal verstehen?“
„Ein paar werden das schon tun“, hoffte Karl.
Der Älteste wies in das Tal hinab. „Dort hinten stehen ein paar Hütten. Zuerst müssen wir etwas zu essen bekommen. Lasst es uns dort versuchen.“
Sie stiegen den Hügel hinab. Aus dem Klettern zwischen den Felsen wurde ein holperiges Gehen, als zwischen dem Geröll zunehmend Grün wuchs. Sie sahen eine kleine Schafherde nebst Schäfer, doch der Mann musterte sie derart feindselig, dass sie sich ihm nicht näherten. Bei dem Mann befanden sich zwei große Hütehunde, die einem zusätzlichen Bissen Fleisch nicht abgeneigt schienen.
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