Eva spricht weiter, nicht ungerührt, ich kann erkennen, dass sie hinter dem Make-up ziemlich mitgenommen aussieht, ihre Stimme ist nicht mehr so fest, was sie sagt, klingt nicht mehr so unumstößlich.
„Die Stasileute bedrohten schließlich auch die Gruppenmitglieder. Sie ließen einen der Studenten mit einem Vorwand vom Studium exmatrikulieren. Andere Gruppenmitglieder sollten ihre Arbeit verlieren. Unsere kleine Kirche wollten sie wegen ‚baulicher Mängel‘ schließen lassen. Wir wussten einfach nicht mehr, was wir tun sollten.“
Eva schweigt, sie sitzt, unter dem Druck Fabians, der sich noch immer auf ihre Schulter stützt, nicht mehr gerade. Sie knabbert plötzlich an ihren gepflegten Fingernägeln, für einen Augenblick kann ich mir vorstellen, wie sie einmal als Mädchen ausgesehen hat, ich bin völlig verblüfft: Es ist, als würde ich in den Spiegel sehen.
„Elf Tage hatten wir Ruhe“, erzählt Eva endlich weiter. „Das war schlimmer, als ihre ständigen Besuche. Als wir schon zu hoffen wagten, dass sie uns in Ruhe lassen würden, waren sie plötzlich wieder da. Es waren ein Mann und eine Frau, sie waren wie ein freundliches älteres Ehepaar, das sich doch nur um unsere Sorgen kümmerte, damit ‚alles wieder gut‘ wird. Man hätte sie richtig gern haben können, wenn, ja wenn sie eben nicht so gemein gewesen wären. Jedenfalls sagten sie, dass sie ein ‚letztes Angebot der gegenseitigen Hilfe‘ mitgebracht hätten, ein Tauschangebot sozusagen.“
„Einen Tausch?“
„Sie versprachen, uns und die Gruppe in Ruhe zu lassen, wenn Fabian – wenn er ihnen - ‚nur zur allgemeinen Sicherheit‘ - Informationen über das Geschehen in der Gruppe geben würde.“
„Und, ja und?“
„Wir waren - am Ende. Das kannst du uns glauben. Dein Vater - Fabian hat dann irgendwas unterschrieben.“
„Etwas unterschrieben?“
„Mein Gott!“, ruft Eva. „Nun sieh mich nur nicht an, als wäre ich ein - Ungeheuer...“
„Nein“, sage ich „Nein – ich weiß nicht, nein...“ In mir sticht es, mich juckt es, es pocht, hämmert in mir, es tut weh, ich wünschte, ich wäre jetzt in meinem Bett, könnte mir die Decke über den Kopf ziehen.
„Und Jens?“, frage ich leise. „Und was ist mit Jens?“
Der Mann und die Frau antworten mir nicht. Keine Ahnung, wie lange wir so am Tisch festgehalten sind, jeder für sich allein, zu keiner Bewegung fähig. Doch dann rappelt sich Eva auf, der Mann und die Frau stehen beisammen, als wären sie miteinander verwachsen. Auch ich stemme mich hoch, so muss man sich fühlen, wenn man alt wie Stein und sterbenskrank ist. Chinamann ist augenblicklich zur Stelle, er versucht gar nicht erst ein Grinsen, nimmt stumm, mit einer eckigen Verbeugung ein paar Geldscheine auf, die Eva auf den Tisch gelegt hat.
Als ich hinter dem Mann und der Frau das Chinarestaurant verlasse, schlägt es mir aus dem Drachenmaul heiß entgegen, eine klebrige Zunge leckt widerlich über mein Gesicht.
Durch den Garagenhof klirrt Irre Wandas Lachen wie zerbrechendes Glas. Sie wiegt sich auf ihren Endlosbeinen, lässt die Hüfte kreiseln, Hände im Nacken verschränkt, Gesicht zum Himmel gereckt, Augen geschlossen.
Kongo hockt auf dem Dach der ausrangierten Feuerwehr, bedient einwandfrei ein Schlagzeug, er langt immer härter hin, Afrika in Sicht, Frühlingsfeuer, grüne Fackeln, über Ufer schwappendes Blau, der Schrei eines Adlers.
Lolito, schöner Mann, schwingt ein Lasso, wirft es geschickt über Irre Wanda, die sich aus der Schlinge tanzt.
Marx, in gebügeltem Mausgrau, sitzt auf dem Hochseil, an eine Kleiderpuppe gelehnt, seine Füße zucken, ich sehe ihn schon platt auf dem Haufen Feldsteine liegen.
Rübezahl, in ölverschmiertem Overall, steht vor Großmutters Sofa - ich habe den Mann noch nie sitzen gesehen -, pafft wie ein Elbdampfer, sieht unbewegt auf Irre Wanda. Der weiße Rauschebart ist um den unsichtbaren Mund gelb und angeschmort. Ich kann mich täuschen, aber auch Rübezahl ist vom Schlagzeug elektrisiert. Die Zuschauer, die üblichen Hyänen eben, die bei Unfall, Hochzeit, Begräbnis dabei sind, hier außerhalb des Spielfeldes herumlungern, auf Aas warten, zählen nicht.
Joker liegt auf seinem Motorrad, die Beine auf der Lenkstange, einen schlappen Lederball unter dem Hinterkopf, den Cowboyhut über die Stirn gezogen. Ich habe mich bemüht, den Zauberer zu vergessen, auch die Todesfahrer, den ganzen Garagenhof. Joker hat mir eine Blume geschickt, keine Rose, nein, rot schon gar nicht, eine blaue Blume eben, eine Kornblume, wie man sie an einer Jahrmarktsbude abschießen kann. Ich drehe die Blume zwischen meinen Fingern, warte auf ein Zeichen des Zauberers, dass unser Treff im Wohnwagen nur ein schlechter Traum war, dass er diesmal zu mir kommen, alles wunderbar sein wird.
Als die Blechtöne abreißen, spielt Joker auf seiner Mundharmonika, keine Melodie, nur Töne, die aus dem Bauch kommen, die das Grau wegnehmen, das Grün tief machen, das Blau weit. Der Zauberer zieht die Fäden von einem zum anderen, er sendet Impulse, die uns lebendig werden lassen, mich lässt er ins Blau schaukeln.
Langsam steige ich auf, nach dem ich zweimal kurz hintereinander gespenstisch tief gefallen bin. Bevor aus Fabian wieder mein Vater werden konnte, ist er wieder der Mann geworden. Zwei Tage nach unserem Verständigungsversuch im Chinarestaurant war er Gast in Hannes Reissers allseits beliebter Talkrunde. Der Reisser ist wirklich genial, er bringt es fertig, jeden Tag ein neues Thema aufzugreifen und seinen Schwachsinn als wichtig erscheinen zu lassen und als besonders engagiert zu gelten. Diesmal ging es um berühmte Eltern, die Beziehung zu ihren Kindern. Fabian hatte viel Beifall, bestimmt hatten sie dem Schildheber fürs Hurrageschrei den erhobenen Arm eingegipst. Fabian hat von eigenen Erziehungsfehlern geredet, die er aber nicht genannt hat. Dann hat er sich ganz dem Miteinander der Generationen , dem gegenseitigen Verständnis gewidmet. Ich habe vor dem Schwindelkasten pfeifen müssen, dass Evas Lieblingsvase zu Bruch gegangen ist.
Irre Wanda rückt näher an Joker heran, sie strippt, Kunststück, lässt dabei die Klamotten an. Erotik ist wohl blanker Irrsinn, damit ist Irre Wanda reichlich ausgestattet.
„Holladihidiii!“ Lolito springt wie ein überdimensionaler Gummiball über den Hof. „Holladihööö!“
Trotzt der Musik ist Marx scharf dozierende Stimme zu hören: „Vor lauter Fata Morganen sieht keiner mehr die Wüste. Das üppige Fleischangebot stinkt zum Himmel!“ Bei Marx denke ich manchmal, das Glück manches Genies ist, dass es sich selbst nicht versteht.
Irre Wanda hat Joker erreicht, sie lässt die Arme sinken, die Hüfte dabei weiter kreisen, beugt sich über den Zauberer - ich schlüpfe in sie, fasse Jokers Kopf, kaum dass ich ihn berühre, lehne meine Stirn leicht, so leicht ein paar Augenblicke lang an seine Stirn. Stille, ganz einfach das Ganze, ein Wunder, von dem ich wünsche, dass es ewig dauern soll.
Es wird Nacht, Walpurgisnacht, Magie, Hexenzauber, Zeit für Flugversuche. Die Mannschaft ist in die neuen Kostüme geschlüpft, hauteng, schwarz, die Skelette und Totenkopfhelme phosphoreszieren grellweiß. Die Stinker haben jede Menge Feuerwasser rangeschafft, dazu totaler Krieg aus dem Synthesizer, immer mehr Leute aus dem Abseits, die einander verhasst sind, rücken an: Kiffer, Skins, Gruftis, Penner, Autonome, Punks, ein paar Patienten aus der nahen Psychiatrie, die den Ausgang überschritten haben, Musterbürger, die hier eine Art Lampionfest erwarten. Unter des Zauberers Hut sind alle gleich.
„Hay, Joker!“
„Hallo, Fans.“
„Zieht's uns heute locker die Haut runter, Joker?“
„Aber in Fetzen, Big Crash - der totale Wahnsinn ist angesagt.“
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