Ich schluchze, ich habe noch nie so geschluchzt, ich heule, so habe ich noch nie geheult, ich zittere, so gezittert habe ich in meinem Leben noch nicht.
„Verdammt“, sagt Joker. „Verdammt, verdammt.“
Joker rutscht auf der Liege hin und her, Geschluchze erschüttert mich, Tränen rinnen mir heiß und kitzelnd den Hals bis zu meinen Brüsten hinunter.
„Verdammt, verdammt!“, ruft Joker. „Noch mal verdammt!“
Er springt auf, setzt sich wieder, rutscht an mich heran, von mir weg, wieder heran, die eine Hand presst wieder den Cowboyhut auf die Oberschenkel, als hätte er dort einen Schatz zu behüten. Mit der anderen Hand umfasst er meine Hand, drückt fest zu. Ich schreie leise auf, es ist, als hätte ich einen elektrischen Zaun berührt, doch dann spüre ich den Strom warm durch meinen Körper ziehen.
„Du musst dich nicht aufregen“, sagt Joker. „Hühnchen. Soll ich dir einen Kaffee kochen? Oder brauchst du was Härteres?“
„Erzähl mir was“, bitte ich den Zauberer. Ich würde zu gern meinen Kopf auf seine Schulter legen, ich möchte, dass er seine Hand auf meiner Haut wandern lässt, dort und dahin, überall hin.
„Was soll ich dir denn da sagen, Hühnchen?“
„Erzähle mir von dir, Joker.“
„Verdammt, verdammt. Von mir? Was denn da?“
„Alles will ich wissen, Joker. Einfach alles.“
Ich habe es geschafft, tatsächlich, mein Kopf liegt auf Jokers Schulter, seine Hand, die meine Hand hält, löst sich langsam, fährt über meinen Handrücken, das Handgelenk, über den Unterarm zum Oberarm hoch. Ich spüre, wie unzählige Härchen sich auf meiner Haut aufrichten, wie ich leichter, immer leichter werde. Was da noch von mir übrig bleibt, schenke ich dem Zauberer.
Jokers Hand bleibt auf meinem Nacken liegen, als wüsste sie nicht, ob sie nach oben oder unten, da oder dort hinübergehen, ob sie überhaupt weiter wandern soll. Sie liegt heiß und schwer auf mir, sie wird immer heißer und schwerer. Ich fühle, der Zauberer ist an dem unsichtbaren Punkt angelangt, wo sich viel, vielleicht alles entscheidet.
Wie von Geisterhand öffnet sich die Tür. Irre Wanda hat ihren Auftritt, sie sieht von mir zu Joker und zurück, viel Weg muss ihr Blick da nicht zurücklegen, so eine Frau begreift schnell. Sie stimmt ihr Wahnsinnslachen an, schluckt es runter, legt mir einen Arm um die Schulter. Wir sind Schwestern, für einen Augenblick sind wir Schwestern, ich lehne meinen Kopf an ihre Brust. Eben noch verbrannte ich, jetzt friert´s mich. Alles mit mir geht langsam, wie in Zeitlupe, ich denke, dass ich nur noch einen halbwegs professionellen Abgang hinkriegen muss, sonst nichts.
Irgendwie habe ich es geschafft, ich stehe auf dem Garagenhof im Scheinwerferlicht. Irre Wandas Stimme kratzt an meinem Trommelfell. „Kleines? Wird's gehen? Ach, Scheiße.“
Ich bin ein Tier, eine Katze, nicht umzubringen, ich hinke davon, wird schon gehen, es geht schon, geht.
Der Mann und die Frau haben mich in einen dieser neuen Nobelschuppen geschleppt, sie wollen wohl meine Auferstehung feiern. So weit ich mich an den Sozialismus erinnern kann, sind wir damals selten Essen gegangen. Eva sagt, wenn ein Lokal tatsächlich einmal nicht aus Technischen Gründen geschlossen hatte, musste man Schlange stehen oder dem Ober einen Geldschein zustecken, um einen Tisch zu bekommen.
Das Chinarestaurant ist eine Art Geisterbahn, ich sitze mittendrin, kann nicht weiter. Aus dem Dämmerlicht grinsen mich aus jeder Ecke goldlackierte Drachen und fett gefütterte Goldfische an. Es ist wohl darum so dunkel hier, dass man die Preise auf der hundertseitigen Speisekarte nicht erkennen kann.
Wie von Geisterhand gelenkt, steht ein Chinese hinter uns, der rote Haare und Sommersprossen hat, und fragt in vollkommenem Sächsisch: „Was winschen de Herrschafden? Nehmer ersdemal en Abbärädiv, wirdch vorschlachen, damid de Ände dann scheen bläddschern gann?“
Ich bestelle mir Dinner Jade für fünf Personen, dazu eine Flasche Tsingtao, das Gericht und der Wein stehen unangefochten an der Spitze der Preisliste. Aus den Augenwinkeln beobachte ich Fabian und Eva, die keine Regung zeigen. Der Mann entscheidet sich aus der niedrigen Preisklasse, um mir seine Bescheidenheit zu demonstrieren, für Papa O Ente Peking , die Frau wählt Schwarzer Drache , Tintenfisch, passend zu ihrem brandroten Kleid.
Wir warten aufs Essen, aus den Lautsprechern tönt altchinesische Musik, die die Kulturrevolution mit ein paar gebrochenen Rillen in der Platte überstanden hat. Fabian erzählt von einem interessanten Fall aus seiner Praxis. Früher musste ich ihm zuhören, weil ich es wollte, jetzt kann ich nicht, weil ich es soll. Ich gähne, dass mir die Gesichtsmuskeln wehtun, sage: „Will denn keiner was sagen?“
Die beiden tauschen einen Blick, ihre Hände auf dem Tisch umfassen einander. Meine Hände zucken, sie schaffen es niemals bis zu ihren Händen.
Fabian schweigt, er ist beleidigt, wenn er unterbrochen wird, das leichte Zucken in seinem linken Mundwinkel kenne ich gut. Er war einmal für mich der bestaussehende Mann, er sieht noch immer gut aus, eins achtzig, ohne Wohlstandsfett, wellige blonde Haare, graue Augen, helle, leicht sommersprossige Haut, starke Nase, kräftiges Kinn. Die Augen lächeln, dass man sich an ihn lehnen oder mit ihm loslaufen möchte; aber der Spott darin, der täglich stärker wird, verhindert das. Obwohl die Falten auf seiner Stirn tiefer, um die Augen mehr geworden sind, wirkt sein Gesicht glatter als früher. Als der Mann noch mein Vater war, ich ihn Petrus nannte, er mein Fels war, stellte ich mir Jona´s Sohn so vor, Fischer am See Genezareth, den Jesus seinen Jüngern voranstellte. Aber auch Petrus verließ Jesus unterm Kreuz, sein Lieblingsjünger Johannes blieb ihm als einziger treu. Doch ich hätte nie gedacht, dass aus Petrus einmal Judas der Verräter werden könnte.
Chinamann bringt die Aperitifs und den Tsingtao: „Sähr zum Wohle de Herrschafden.“
Wir greifen nach den Gläsern wie Kranke nach der Wundermedizin. Es braut sich was zusammen in der Geisterbahn, der Wagen, in dem wir sitzen, beginnt zu rollen, steuert auf einen Drachen zu, der keinem dieser lackierten Karussellpferdchen ähnlich ist.
Ich nicke Chinamann zu, er lächelt fernöstlich, schenkt vom Tsingtao ein, den ich ex trinke. Ich nicke, sage dann: „Noch mal dasselbe, Chinamann.“
„Aber geschwind, ich flieche, scheene Lady.“
Schöne Lady, das hatte ich noch nie, entweder ich bin high oder Chinamann.
Eva hat sich in einem Wandspiegel entdeckt, sie versucht sich noch gerader zu setzen, hält den Kopf noch königlicher, sie findet immer und überall einen Spiegel, vielleicht auch suchen die Spiegel sie: Original oder Kopie, es streiten die Experten, so oder so ein Rasseweib, naturblond oder kunstvoll gefärbt, auch die Hellseher sind hier hilflos; Afrikaaugen; Haut mit dem gewissen Bronzeton von Models, die für die Südsee Reklame machen; ein Mund, Evas Mund eben, für dessen Lächeln Männer schon scharenweise den Heldentod fanden. Noch dazu ist sie eine Schminkmeisterin, die das, was gut ist, noch besser hinkriegt. Bestimmt hat sie die Maße einer Miss World , wobei sie nur ein paar Zentimeter zu kurz geraten ist. Wie die Frau Anne heißen kann, ist mir ein Rätsel, ich nenne sie schon immer Eva, die Verführerin, der die Äpfel nie ausgehen. Sie ist genau die Frau, die dem Mann Untertan ist, um ihn beherrschen zu können, ich bin kein bisschen neidisch, dass das klar ist.
Noch immer halten sich ihre Hände, Skandal, ich fahre Geisterbahn, weiß nicht wo, wie, was.
Das Essen steht auf dem Tisch, für das Dinner Jade haben allerlei liebe Tiere ihr Leben lassen müssen: Ente, Hai, Hummerkrabben, Muscheln. Man könnte ganze Völker damit speisen, ich rühre nichts an, sehe zu, wie in einer kristallenen Schüssel Eis und Sahne zu bunter Suppe werden. Fabian und Eva hantieren mit Stäbchen, der Mann bekommt aus der Beilage ein Meerestier zu fassen, die Frau ein Reiskorn, sie balancieren es zu ihren Mündern, die babyhaft aufschnappen.
Читать дальше