Jetzt muss ich auch noch heulen, ziehe mir die Aquarellfarben heran, mische sie mit Tränen, sehe einen Frauentyp, der Joker in den Wahnsinn treiben muss, beginne in meinem Gesicht zu malen. Ich brauche immer mehr Farbe, hektisch führe ich den Pinsel, blicke in ein Clownsgesicht, dem die Farben weglaufen.
Wieder stoße ich diesen Pfiff aus, in die Nacht hinein, über die Gartenzwergsiedlung hinweg, über Stadt und Land ins All hinein. Als ich ohne Luft bin, pfeift was zurück, weiß nicht was , leise, zart, ein Streicheln, nur für mich gedacht. Ich lege mich aufs Bett, falte die Hände auf meinem Bauch, schließe die Augen, warte darauf, dass etwas passiert.
Ich stehe tatsächlich wieder vor dem himmelhohen Betonklotz, drücke meinen ausgestreckten Zeigefinger auf den Klingelknopf unter dem Namen Steinrück.
„Ja, bitte.“
Jemands betont ruhige, leicht zerkratzte Stimme aus der Sprechanlage.
„Ja“.
„ Sie? Sie sind es wieder?“
„Ja.“
Jemand hat mich wiedererkannt, obwohl es eine Woche her ist, als ich hier eine schwache Premiere abgeliefert habe.
„Haben Sie vielleicht Zeit?“
„Wollen Sie hochkommen?“
„Das wird nicht hinhauen.“
Kein Drängen, nichts, nur: „Geht in Ordnung, N Punkt.“
Barbarisch, Jemand hat es gespeichert, er nennt mich N Punkt.
Das Rauschen aus der Sprechanlage, die sirrenden Fäden, die sich zum Spinnennetz verstricken, Jemand und N Punkt hineinziehen.
„Warum sind Sie wiedergekommen?“
„Nur so.“
„Etwas bedrängt Sie doch, N Punkt? Wollen Sie nicht doch reden?“
Ich sage: „Ihre Annonce in der Zeitung - was Sie da geschrieben haben - von Herzschmerzen und so, im Dunkel ein Licht anzünden , wen wollen Sie damit aufs Kreuz legen?“
„Warum sollte ich?“
„Weil jeder jeden aufs Kreuz legt. Absoluter Massensport.“
„Für Ihr Alter sind Sie sehr misstrauisch, N Punkt.“
„Mein Alter können Sie ganz schnell vergessen!“
Jemand beginnt zu nerven, zu jung oder zu alt ist für die meisten Leute: Verblödet oder todkrank.
Rauschen, sirrende Drähte, das Spinnennetz, Jemand aus der Sprechanlage: „Sie wollen etwas geschrieben haben?“
„Sind Sie vielleicht Schriftsteller?“
Ein Lachen, nicht aufgesetzt, auf kurzem Weg aus dem Bauch, hört sich gut an.
„Nein“, sagt Jemand . „Ich schreibe nur Briefe.“
„Briefe? Was für Briefe denn?“
„Ja, wollen Sie denn keine Nachricht geschrieben haben? Sie wollen doch einem Menschen etwas von sich mitteilen, für das Sie selbst keine Worte finden.“
„Kein Interesse.“
„Ich bin ein Liebesbriefschreiber“, sagt Jemand aus dem Spinnennetz. Er sagt das nicht, wie wenn er Koch, Mechaniker oder Arzt wäre. Seine Stimme klingt selbstbewusst, doch dahinter ist Unsicherheit, ich bin Spezialistin für Stimmverstecke.
„Ihre Stimme“, sage ich. „Sie kommen von drüben? “
„Spielt das für Sie eine Rolle?“
Jetzt kommt Schärfe in Jemands Stimme. Keine Ahnung, ob das für mich eine Rolle spielt, immerhin war Jemand aus dem Westen für Jemand aus dem Osten vor ein paar Jahren noch ein Klassenfeind. Das war damals wohl schlimmer als Serienkiller und Kinderschänder.
„Nun, was wollen Sie denn geschrieben haben?“
„Mein lieber John “, sage ich, weil ich absolut nicht weiter weiß.
„ John? “, fragt Jemand . „Geht es um ihn?“
„Das können Sie vergessen!“, rufe ich. „Lassen Sie John da raus!“
Schweigen, Rauschen, im Spinnennetz, darin Jemand und N Punkt.
„Sind Sie noch da, N Punkt?“
„Ein bisschen.“
„Aber ich muss mehr wissen von Ihnen. Wenn Sie mir nicht vertrauen, kann ich Ihnen nicht helfen.“
„Alles okay da oben?“, frage ich.
„Verstehen Sie mich doch, N Punkt. Der Abstand zwischen uns ist einfach zu groß.“
„Ja“, sage ich. „Ja.“ Das Rauschen wird stärker, ein Sturm drückt uns weg voneinander, Jemand spricht, aber ich verstehe ihn nicht mehr.
Schließlich ist nicht einmal mehr ein Kratzen in der Leitung, ich schreie: „Wie sehen Sie denn aus? Können Sie sich beschreiben? Versuchen Sie es doch mal.“
„Ich...? - Kommen Sie doch hoch! Überzeugen Sie sich selbst! Aber Sie wollen doch nur ein bisschen spielen! Sie langweilen sich, was! Hauen Sie doch ab! Verschwinden Sie!“
Ich bin erschrocken, bis unter die Haut, Jemands Zorn ist echt, es ist der Schmerz, den ich selbst so oft spüre.
Ich sage: „Ich komme jetzt nach oben.“
„Nein!“
Die Verbindung ist unterbrochen, mir ist elend, warum kann ich nicht einmal schlauer gehen, als ich gekommen bin? Ich schleiche mich davon, ich bin ein Tier, eine Schnecke, die nicht vom Fleck kommt, die Füße all der Leute über sich hat.
Auf dem Garagenhof ist es ruhig, kaum zu glauben, kein Gaffer weit und breit. Hoch oben über dem Rosental steht ein einsamer Drache, täuscht mir den freien Flug vor; dann erkenne ich die Schnur, die ihn an die Erde fesselt. Aus dem Gartenverein zieht Bratwurstmief herüber. Auf der anderen Seite des Garagenhofs türmen sich bröcklige rote Steine zu Häusern. Dahinter liegt die Rennstrecke, es ist Abend, Berufsverkehr, tonnenweise scheppert Blech, aus allen Himmelsrichtungen haben die Sirenen der Rettungsfahrzeuge sich wichtig.
Ich sitze auf der Schaukel, sehe auf Jokers Hände. Der Zauberer ist völlig weggetreten, wie immer, wenn er spielen kann. Er hockt auf dem schmutzigen Hof vor einem Haufen Teile, die er wieder zu einem Motorrad zusammenbauen will. Jokers Hände sind für mich die eines Zauberers, sie brauchen keine Tricks, um mich staunen zu lassen. Es sind schmale Hände, die sogar den Hünen Kongo in die Knie zwingen können, sie haben Risse, Narben und Furchen, die schwarz sind von öligem Dreck, nicht wieder sauber zu kriegen. Sie geben mir das Gefühl, dass mit ihnen etwas anzupacken ist, das ich allein nicht zu fassen kriege, schon gar nicht in Bewegung setzen kann. Jokers Hände sind konzentriert ohne Verbissenheit, es gefällt mir, wie er manchmal in der Hocke schaukelt, sich mit dem Handrücken über die Stirn reibt, dabei nachdenkt.
Die Mannschaft ist auch beschäftigt: Irre Wanda mit sich selbst; sie dreht und wendet sich vor einem goldrahmigen fleckigen Spiegel, drückt an ihrer Larve herum, stößt Zischlaute aus. Lolito, schöner Mann, lackiert einen dreckigen Lastwagen, leistet sich immer wieder mal einen Luftsprung, ein satanisches Quieken, dass Irre Wanda ihm mit ihrem beeindruckenden Hintern zuwackelt. Rübezahl hüllt sich in eine bleigraue Nikotinwolke, hackt Holz, als stünde ein langer Winter bevor. Kongo bläst mit ein paar Eisenkugeln seinen Body auf. Marx wandelt, die Hände auf dem Rücken, gramgebeugt, durch den Müll, denkt, dass sich ihm die Adern blau aus der Stirn drücken.
Ich versuche, mich vom Abend beruhigen zu lassen, den ganzen Tag schon hat es mich herumgeworfen. In der Nachplapperanstalt, die sie Gymnasium nennen, bin ich von Typ zu Typ gerannt, habe überall „Ich, ich, ich!“ zu hören bekommen. Luisa hat gesagt, ich würde wie meine eigene Mumie herumlaufen, ich solle doch endlich Parterreakrobatik trainieren, die sei gut für die Durchblutung, die Nerven, den Teint, überhaupt für alles. Ich war nahe dran, Fabian in seinem Büro anzurufen, ihn zu fragen, ob er einen Spruch für mich übrig hat. Eva war wieder einmal mit Möbelrücken in der Millionenlaube beschäftigt. Zwischendrin telefonierte sie mit einem TV-Chef, der Fabian wieder einmal für eine Talkshow haben will.
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