„Ich war so stolz auf dich - Vater.“
„Was sagst du da?“
„Ja doch“, sage ich. Wenn da nur der Brief nicht wäre, dieser Brief eben, dieser verdammte Brief, warum nur musste ich ihn auch in die Hände kriegen, ihn öffnen.
Ich versuche Fabian in die Augen zu sehen, er weicht meinem Blick aus, ich sage: „ Und alsbald, da Jesus noch redete, kam herzu Judas, der Zwölf einer, und eine große Schar mit ihm, mit Schwertern und mit Stangen, von den Hohepriestern und Schriftgelehrten und Ältesten. “
„Was soll das nun schon wieder“, sagt die Frau. „Nun mäßige dich aber, Kind.“
„ Und der Verräter hatte ihnen ein Zeichen gegeben und gesagt: Welchen ich küssen werde, der ist's; den greifet und führet ihn sicher. “
Nach der Wende hat Fabian sich ins Schweinwerferlicht ziehen lassen, dort muss es ihm gefallen haben, er hat jedenfalls seinen Priesterrock eingemottet, ein Anwaltsbüro aufgemacht, um „näher am Geschehen zu sein“.
„Ja“, sagt Fabian, er sagt mein debiles Ja .
Ich habe eine Kopie des Briefes bei mir, ich habe sie immer bei mir, obwohl ich jedes Wort genau kenne: Zu Händen Dr. Fabian Siebenbirken. Mein Name soll bei dem, worin ich meine Pflicht sehe, nämlich Sie zu erinnern, keine Rolle spielen. Zurzeit fühle ich mich nicht in der Lage, mit Ihnen zu sprechen.
Ich war damals Studentin und gehörte zu der kleinen Gruppe Bürgerrechtler, denen Sie bis zur Wende in Ihrer Kirche Unterschlupf und Arbeitsmöglichkeiten zum Widerstand gegen das SED-Regime gegeben haben. Das war mutig von Ihnen. Wir wussten, dass Sie und Ihre Familie ohnehin schon Repressalien ausgesetzt waren und eine Gefängnisstrafe riskierten. Wir sahen in Ihnen ein Vorbild und haben Sie bewundert. Ihr Mut hat auch uns Mut gemacht. Auch ich wäre, wie es die anderen Gruppenmitglieder sind, heute noch voller Hochachtung für Sie. Aber ich musste durch Sie eine der bittersten Enttäuschungen meines Lebens erfahren. Ich habe eine Zeit lang bei der Aufarbeitung von Stasiakten geholfen und hielt kürzlich eine Akte in den Händen, die die Stasi über Sie geführt hat. Sie standen seit Jahren unter Beobachtung und galten als „potenzieller Staatsfeind“. Dann aber musste ich lesen – und ich kann es bis heute nicht fassen -, dass gerade Sie , in dem wir einen unbestechlichen Freund sahen, der Stasi regelmäßig Auskunft über uns gegeben haben. Dadurch ist es dann ja auch zur Verhaftung von Jens gekommen. Er wurde im Schnellverfahren zu drei Jahren Gefängnis wegen ‘staatsgefährdender Umtriebigkeit‘ verurteilt. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Bei Versuchen, ihn zu besuchen, hieß es, er habe eine ansteckende Krankheit. Nach einem Jahr bekamen seine Eltern die Nachricht, dass er an einer akuten Blinddarmentzündung verstorben sei. Heute wissen wir, dass Jens sich in seiner Zelle die Pulsadern aufgeschnitten hat. Seine Frau, die auf ihrer Arbeitsstelle wegen der Verurteilung ihres Mannes, unter Druck gesetzt wurde, hatte die Scheidung eingereicht. Was da sonst noch in seinem Umfeld passiert sein mag, werden wir nie erfahren.
Sie wurden von der Staatssicherheit unter dem Decknamen „Reformator“ als „inoffizieller Mitarbeiter“ geführt. Ich erinnere mich noch gut an die vielen nächtlichen Gespräche, die wir mit Ihnen in der Gruppe hatten, in denen Sie uns, wenn wir schon verzweifeln wollten, immer wieder Kraft gaben, weiterhin an das Erreichen einer demokratischen und freiheitlichen Gesellschaft zu glauben. Wir saßen unter einem Dach und an demselben Tisch, wir haben zusammen gegessen und getrunken, und wir haben mehr voneinander gewusst, als unsere Eltern und Geschwister. Ich will nicht Ihr Richter sein. Ich will aber, dass Sie nicht vergessen wie es war.
Sie sagten uns einmal: Die Wahrheit ist wie ein Ball. Solange du ihn auch unter Wasser drückst, irgendwann musst du ihn loslassen und er kommt an die Oberfläche zurück.
Ich habe zu niemand aus der Gruppe und überhaupt zu keinem anderen Menschen davon erzählt. Ich habe es gewollt, aber ich konnte es nicht. Ich habe mich einfach zu sehr geschämt. Die Akte habe ich vernichtet. Das ist meine Schuld, mit der ich fertig werden muss, wie auch Sie mit Ihrer Schuld fertig werden müssen.
Ich spüre meine Hand nicht, aber ich weiß, sie drückt sich in meine Hosentasche, zieht das zusammengefaltete Blatt Papier hervor. Ich will es nicht, doch meine Hand legt den Briefbogen auf den Tisch, meine andere Hand, die auch nicht mir zu gehören scheint, hilft beim Auseinanderfalten. Meine Hände schieben das Geschirr beiseite, legen das Blatt mit der Schrift nach unten auf die blütenweiße Tischdecke.
Der Mann und die Frau starren darauf, dann sagt Eva: „Was soll das denn sein?“
Jetzt bin ich dran, es wird kein anderer für mich sprechen, wenn ich es jetzt nicht schaffe, bekomme ich es nie hin. Endlich höre ich mich sagen: „Ein Brief ist das.“
„Ein Brief? Von wem denn?“
„Ich weiß nicht“, sage ich. „Jedenfalls ist er an Doktor Fabian Siebenbirken gerichtet.“
Eva greift schon danach, doch dann zögert sie, blickt fragend ihren Mann an, erschrickt.
„Drehe das Blatt um“, sage ich zum Mann, auch zur Frau sage ich es. Sie tun es beide nicht, sie wissen, was das für ein Brief ist. Für den Augenblick ist selbst Eva sprachlos, doch dann sagt sie entrüstet: „Wie kommst du denn dazu? “
Ich versuche dem Mann in die Augen zu sehen, der ist ohne Blick, sein Gesicht ist wie aus dem Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds.
Ich sage: „Was spielt denn das für eine Rolle. Ich bin es, die eine Frage hat. Und zwar an Fabian.“
Eva greift entschlossen nach dem Briefbogen; bevor ich es verhindern kann, zerreißt sie ihn in tausend Stücke, wirft sie hinter sich. Die Schnipsel landen auf der Wasseroberfläche in einem Aquarium, die Fische schnappen gierig nach ihnen, spucken sie wieder aus.
Die Frau sagt entschieden: „So“, versucht meine Hand zu greifen, sagt, als wäre alles nur ein Spiel: „Nadine, Kind, Schätzchen, du musst dich nicht mit etwas beschäftigen, dass du nicht verstehen kannst.“
„Klar doch, ich bin dumm.“
„Dumm bist du nicht. Aber dir fehlt es ganz einfach noch an Lebenserfahrung.“
Chinamann tritt beflissen aus dem Drachenmaul, er erfasst die Situation auf einen Blick, steuert elegant an unserem Tisch vorbei.
„Das, was du da zerrissen hast“, sage ich zu Eva, „das begreife ich auch ohne deine Lebenserfahrung.“
Fabian steht auf, langsam, mühevoll, er schafft es, legt eine Hand auf Evas Schulter, sagt gepresst: „Du willst also wissen, was damals passiert ist.“
„Ich will es wissen.“
Eva weiß, dass Fabian jetzt sprechen muss, sie spricht schnell: „Dein Vater hat schon immer den Kopf hingehalten für andere. Er hat die Bürgerrechtler in seiner Kirche aufgenommen, obwohl wir wussten, dass er beobachtet wird. Selbst der Bischof hatte ihn zu sich bestellt und ihm geraten , nicht auffällig zu werden. Und der Rat eines Bischofs ist genauso gut wie ein Befehl. Aber dein Vater hat sich nicht beirren lassen und die jungen Leute weiter unterstützt.“
Wieder hat die Frau es geschafft, das Gespräch an sich zu ziehen. Der Mann steht, schweigt, stützt sich auf die Frau.
„Und was in dem Brief steht, sind alles Lügen?“, sage ich.
„Das kann man so und auch so sehen. Wie immer hat alles zwei Seiten“, sagt Eva, entschlossen, Fabian nicht zu Wort kommen zu lassen. „Fabian hat sich lange gewehrt, der Stasi Informationen weiterzugeben. Wir dachten schon daran, über Ungarn eine Flucht zu versuchen. Aber das hätte die Gruppe erst recht nicht verstanden. Versteh doch, die Stasileute ließen deinem Vater einfach keine Ruhe.“
„Ich verstehe es nicht“, sage ich. „Nein, ich verstehe es nicht.“
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