»Nein, überhaupt nicht. Auf der Polizeiakademie hatten wir uns auch damit beschäftigt. Das nicht Wahrnehmbare.« Claudia nickte ihm auffordernd zu.
»In meinem Job habe ich häufiger mit nicht erklärlichen Phänomenen zu tun. Insbesondere mit Materie und Energie und deren Wechselwirkungen in Raum und Zeit. Aber lassen wir das. Van Basten ist es gelungen, ein theoretisches Phänomen, aus dem Experimentalstadium, in eine Anwendung zu bringen. Was genau, weiß ich nicht. Es unterliegt strenger Geheimhaltung«.
»Schade. Ich wäre ein ganzes Stück weiter, wenn ich wüsste, was genau er entdeckt hat.« Die Enttäuschung stand ihr aufs Gesicht geschrieben.
»Ich weiß nur so viel, dass er mit seiner Theorie, die scheinbar keine mehr ist, Gehirnwellen beeinflussen kann.«
»Gehirnwellen? Du spinnst.« Sie schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
»Hab ich dir doch vorhin gesagt.« Sein Mund lächelte, doch seine Augen blieben ernst. »Nein. Tatsache. Er war jahrelang in der Psychiatrie. Die Regierung hatte ihn kaltgestellt und seine Ergebnisse ins Fantastische gerückt.«
»Weshalb sollte die Regierung einen Spinner kaltstellen?«
»Weil scheinbar doch etwas an seiner Arbeit stimmte.« Kurt stand auf und ging zur Küche hinüber. Er blieb stehen. Er wusste nicht mehr, was er wollte.
»Ich werde Maria darauf ansetzen.« Sie bekam seine Verwirrung nicht mit.
»Was hast du gesagt?«
»Ich lasse Maria recherchieren. Mit deinen Informationen wird sie etwas anfangen können.« Sie unterbrach ihre Rede. Kurt stand der Schweiß auf der Stirn. Er sah fürchterlich aus. »Was ist los? Bist du krank?«
»Ich … ich …«, er brach ab und stützte eine Hand auf die Arbeitsplatte.
Sie fasste ihn beim Arm und führte ihn zu seinem Stuhl zurück. »Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein. Schon gut.« Tatsächlich ging es ihm besser. Die Augen waren wieder klar und der Schweiß lief auch nicht mehr übers Gesicht. »Ich war einen Moment nicht hier. Ich weiß auch nicht.« Er hieb hilflos mit der Faust durch die Luft. »Ich hatte das schon einmal. Damals war ich auch mit den Forschungsergebnissen van Bastens beschäftigt. Vielmehr hatte ich mir überlegt, was er wohl entdeckt haben mag. Und jetzt wieder.«
»Du weißt«, erwiderte sie aufgebracht, »dass eine solche Denkverbindung wahnwitzig ist. Selbst in diesem Voodoo Dorf hier.« Claudia war mehr verwirrt, als erschrocken. Seit sie hier wohnte, traten so viele, sie wollte es mit seinen Worten, Phänomene, nennen, zutage. Jetzt fing ihr Kurti auch noch an. Sie schrak unvermittelt aus ihren Gedanken, als Edgar bellte. Der Dackel hatte seinen Platz auf der Fußbodenheizung verlassen und musste mal raus. Sie öffnete die Türe zum Hof und schon flitzte er hinaus.
»Lass uns heute nach Geilenkirchen fahren«, bemerkte Kurt. »Dort ist heute Nikolausmarkt und es sollen Franzosen, aus der Partnerstadt dort sein. Sie bieten Spezialitäten aus ihrer Region an.«
»Klar. Machen wir«, sagte sie, erfreut darüber, dass das Thema beendet war.
*
»Weshalb haltet ihr euch bei den Händen?« Lukas rief sie zurück. »Ihr wisst doch, dass das verboten ist.«
»Wer sagt das?« Jana öffnete die Augen, kaum glaubend, dass sie wieder in der Zwischenwelt war.
»Äh … jeder weiß das.« Lukas antwortete verunsichert.
»Halt die Klappe.« Marco öffnete mühsam die Augen. Er wirkte erschöpft. »Anfassen ist grundsätzlich verboten. Weshalb, weiß ich nicht. Doch nach unserem Ausflug in die Berge beginne ich, zu verstehen, weshalb. Das werden die Roten nicht dulden.«
»Damit haben die Zwillinge nichts zu tun«, sagte Jana nachdenklich. »Hier in der Zwischenwelt sind sie Regeln unterworfen. Du musst freiwillig zu ihnen gehen und dich umarmen lassen. Deshalb auch keine Farbe oder irgendwelche Annehmlichkeiten. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo du mit Freuden deinen Sehnsüchten nachkommst, nur um der tristen Umgebung zu entkommen. Außerdem«, sie wandte sich an Marco, der mittlerweile ebenso saß, wie sie, »haben wir gezeigt, dass es durchaus Wege gibt. Wir sind kurze Zeit in der realen Welt gewesen.«
»Ich glaube, du liegst falsch«, äußerte Marco skeptisch. »Die Regeln galten bei unserem Ausflug nicht. Die Roten können noch nicht mit der neuen Situation umgehen, sonst wären wir nicht entkommen. Deine Freunde haben uns gerettet.«
»Ihr habt einen Weg herausgefunden?« Vivian baute sich vor ihnen auf.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Jana vorsichtig. Sie kannte ihre Leidensgenossin und die anderen nicht. Sie hatten lediglich eines gemeinsam, sie lagen in der realen Welt im Koma. Ein Gefühl ließ sie vorsichtig sein.
»Du hast vorhin von der realen Welt gesprochen und Marco sprach von deinen Freunden.« Stefan stand plötzlich zwischen Lukas und Vivian. Er sah drohend zu ihnen hinunter.
Jana rappelte sich hoch. Dabei tat ihr jeder Knochen so weh, als seien sie tatsächlich unterwegs gewesen. Langsam geriet sie durcheinander und konnte die Ebenen, auf denen sie sich bewegte, fast nicht mehr auseinanderhalten. Sie grinste und schüttelte den Kopf: abartig, in ihrer Situation von Bewegung zu denken. Sie wusste nicht, ob sie einen Traum und in diesem Traum einen weiteren und so weiter hatte. Bei Opa hatte sie Traumfänger, nicht nur in ihrem Zimmer, dort in seinem Haus, an den Wänden hängen. Solch einen wünschte sie sich jetzt. Sie würde Stefan, Vivian, Lukas und die Zwischenwelt hindurchjagen, in der Hoffnung sie würden als böser Traum hängen bleiben. Was für ein Mist. Nicht genug, dass sie im Koma lag – sie musste sich auch mit Idioten herumschlagen. »Tut uns einen Gefallen«, sie legte eine Hand auf Marcos Schulter, »Lasst uns einfach in Ruhe.«
»Du weißt nicht, was du sagst.« Vivian keifte, wie ein Marktweib. Ihre vollen, blassen Lippen verzogen sich hässlich und die Augen sprühten nackten Hass. Stefan und Lukas traten lauernd zurück und beobachteten die Auseinandersetzung aus dem Hintergrund. »Du bringst alles durcheinander.«
»Was bringe ich durcheinander?« Jana ging furchtlos einen Schritt auf die Frau zu. »Diese Zombies?« Sie wies, mit einer allumfassenden Bewegung über die die riesige Wiesenfläche, die den anderen verborgen war. Die Gestalten, mehr menschliche Schatten, waren in steter langsamer Bewegung. Da war kein Leben. Einzig die kleine Gruppe, zu der sie auch gehörte, zeigte Initiative und fiel somit auf.
Die wabernde Leibermasse teilte sich und machte eine breite Gasse frei, die wie sie sah, in die Unendlichkeit führte. In der Zwischenwelt gab es keinen Horizont und damit kein Ende. Ein dunkles Pünktchen näherte sich. Eine Gestalt auf einem Tretroller, einem Cityroller mit kleinen Kugel gelagerten Rädern. Elegant bremste der Roller und die in Schwarz gekleidete Gestalt stellte das Gerät umständlich auf den Ständer. Sie wandte ihre glänzenden kohlschwarzen Augen Jana zu und tippte mit der Hand gegen die schwarze Kopfbedeckung, die einem Schiffchen glich, das sie schon häufiger bei Soldaten gesehen hatte.
»Ich komme als Botin«, bemerkte das fremde Mädchen. Es war bis auf die Augen und die Kleidung, ein Duplikat Janas.
»Was bist du denn?« Jana lachte und fasste an ihre Stirn. Wurde sie bekloppt? Drillinge, anstatt Zwillinge. »Bin ich in einem Irrenhaus und werde mit irgendwelchen Tabletten vollgestopft?«
»Ich komme als Botin«, wiederholte Jana Nummer drei, nein Nummer vier. Die Echte im Krankenhaus musste wohl mitgezählte werden. »Du.« Sie zeigte mit dem Finger auf Jana und gab ihrem Gesicht, einen wichtigen Ausdruck. »Du bringst Unruhe in die Wartezone. Stell das ein.«
»Ich? Unruhe? Du spinnst.«
»Ich bitte um mehr Respekt«, sagte das Wesen tonlos.
»Du bist bekloppt. Ich bringe mir so viel Respekt entgegen, wie ich will. Du bist doch ich, oder?« Ihre Gedanken ignorierten das eisige Gefühl, das von den Füßen hochzog. Die Beine fühlten sich an, als ob sie bis zu den Knien in einem Eisblock standen.
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