1 ...7 8 9 11 12 13 ...17 Marco stand hilflos mit hängenden Armen und nackten Füßen im Gras, das einen dichten Teppich bildete und aus dem hier und da ein Blümchen seine Blüten zum Himmel reckte.
Himmel?
Sie erschrak. Tatsächlich das blaue Loch über ihnen, besaß die dunklere natürliche Farbe, die ihr aus dem wirklichen Leben bekannt war.
»Ich sehe ein scheißkaltes Loch. Mir ist kalt«, stellte Marco mürrisch klar. Tatsächlich zitterte er am ganzen Körper. Er war unglaublich dünn.
Kein Gramm Fett und schlaffe Muskeln, wie sie feststellte. Die arme Sau musste ja frieren. Jetzt spürte Jana es auch. Die Kälte zog zwischen ihren Schulterblättern, wie ein kriechendes Tier, von den nassen Füßen hoch. Sie beugte sich hinunter und fühlte mit den Händen, was sie schon wusste. Das Gras war real und nass. »Ja. Ich weiß«, antwortete sie. »Reiß dich zusammen. Weshalb haben wir das Theater veranstaltet? Deinetwegen.«
»Es fühlt sich an, wie die reale Welt. Kalt, nass und eklig. Ich will zurück und meine Ruhe wieder haben.« Er wurde quengelig und brachte es deutlich zum Ausdruck. »Du hast die Zwischenwelt durcheinandergebracht. Mit dir musste ich denken, und ob ich wollte oder nicht, Zeit kam zurück. Ich will keine Zeit. Ich will meine Ruhe.«
»Du bist blöd, Marco und stellst dich an, wie ein kleines Kind.« Sie kümmerte sein Ausfall nicht und sie war zu jung, um ihn auf sich zu beziehen. »Ich möchte lediglich wissen, was du siehst. Grau in grau oder Farben?«
»Das Gras ist grün. Dort die weiß blühende Blume ist Bärwurz; die rote ist, glaube ich zumindest, eine Kuckuckslichtnelke; die Namen der anderen fallen mir im Moment nicht ein. Der Fels sieht halt aus, wie Fels aussieht. Eben grauer Stein, der in abweichenden Schattierungen, von Linien durchzogen ist, die in den unterschiedlichen Entstehungsstadien, entstanden sind.« Er hielt verblüfft inne. »Wir sind tatsächlich in der realen Welt. Wie hast du das angestellt? Wer bist du?« Seine Bedrückung verschwand.
»Ich bin genauso erstaunt, wie du und wollte dir lediglich ein wenig Farbe in dein Dasein geben, von Leben können wir nicht reden. Du hast eine erstaunliche Beobachtungsgabe und kennst sogar die Namen der Pflanzen, von denen ich nie gehört habe. Was meinst du, sollen wir jetzt tun?«
»Du hast uns in diese Situation gebracht.« Er warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Hab ich das? Jetzt sind wir hier und müssen überlegen, was wir tun.« Sie war fest entschlossen, nicht alleine die Verantwortung zu übernehmen. Was bildete der sich ein.
»Ich habe absolut keine Ahnung.« Er ließ sich ins nasse Gras nieder und verzog angeekelt das Gesicht, als die Feuchtigkeit durch die Kleidung drang. Er lebte schon zu lange isoliert in der Zwischenwelt, als dass er seine jetzige Situation akzeptieren konnte. Marco war in der realen Welt. Er konnte jedoch nicht akzeptieren, dass er lebte. Er war noch nicht angekommen.
»Mensch Junge. Du bist ein richtiger Penner.« Jana fuhr ihn wütend an. »Wenn wir nichts tun, sterben wir an Unterkühlung, verhungern oder verdursten.«
Marco sah verwirrt hoch. »Du verstehst nicht, Jana. Wir sind schon tot … zumindest fast. Was erwartest du? Wir benötigen keine Nahrung. Damit du es auch verstehst, noch einmal ganz langsam: W i r s i n d n a c h d e m T o d. Diese reale Welt ist eine Fata Morgana. Hast du das verstanden?«
»Fühlt sich das nach dem Tod an? Außerdem sind wir immer noch vor dem Tod, wenn ich dir und den anderen glauben darf«, sie machte eine allumfassende Bewegung. »Jetzt schwing die Hufe, wir müssen hier heraus.« Sie beobachtete die Felswand, um eine Möglichkeit zu finden, dort hinaufzuklettern.
»Du kannst mich mal.« Marco drehte ihr bockig den Rücken zu. »Mach, was du willst. Ich warte hier, bis ich wieder in der Zwischenwelt bin.«
Jana hob in Verzweiflung die Schultern. Was sollte sie machen? Sie war sich nicht mehr sicher, ob ihnen nicht doch etwas geschehen konnte. Traum hin, Traum her. Das hier war ziemlich realistisch. Sie fuhr herum. Steine polterten über den Boden. In etwa fünfzig Meter Höhe stand ein Steinbock und beäugte sie. Hinter ihm standen drei Geißen. Das graubraune Fell glänzte in einem Sonnenstrahl, der über die Kante des Trichters, genau auf diese Stelle fiel. »Sieh mal. Sieht das, wie nach dem Tod aus«, rief sie.
Marco erhob sich schwerfällig aus seiner sitzenden Stellung und sah in die Richtung, in die Jana deutete. Über ihnen stand das pralle Leben. Graziös, fast schwerelos setzte das mächtige Tier zur Bewegung an und sprang elegant die fast steile Felswand hinunter. Die Geißen folgten ihm. Innerhalb weniger Augenblicke erreichten die Tiere den Grund. Während die Geißen am Fuß der Wand verhielten, kam der Bock zielstrebig, hoch erhobenen Hauptes auf sie zu. Er wog bestimmt hundert Kilo. Die Geißen ungefähr die Hälfte. Sie waren viel zierlicher. Marco ergriff die Flucht und presste seinen Körper gegen die Felswand. So viel zu ›Wir sind nach dem Tod‹, dachte sie. Jetzt hatte er die Hosen voll.
Jana stand ruhig und wartete. Langsam hob das stolze Tier, mit geblähten Nüstern, den Kopf und nahm ihre Witterung auf. Der Steinbock senkte sein Haupt, mit den mächtigen gebogenen Hörnern, und bot ihr die Stirn dar.
Jana kraulte das stolze Tier und schlang die Arme um seinen Hals. »Steini«, flüsterte sie mit feuchten Augen. »Dass es dich tatsächlich gibt.« Opa hatte den Steinbock so plastisch beschrieben, dass er tatsächlich genauso aussah, wie in ihrer Vorstellung. Sie fasst seinen braunen Ziegenbart und zog daran, wie sie es früher in ihren Träumen getan hatte. Jana fuhr über sein bestimmt ein Meter langes Gehörn und ertastete die Lücke, der fehlenden Zacke, die er im Kampf mit einem Berglöwen verloren hatte. Sie musste lächeln. Im Traum war alles so einfach. Dies war ein Alpen-Steinbock und hier gab es keine Berglöwen. »Weshalb bist du hier? Willst du uns helfen?« Steini scharrte mit den Hufen und bewegte sich auf die Steilwand zu. Sie sollte ihm folgen.
Marco beobachtete die Szene mit offenem Mund und näherte sich vorsichtig. Der Steinbock wich schnaubend zurück.
»Warte«, sagte Jana ruhig, ohne den Kopf zu heben. »Er will mir etwas sagen.« Sie ging zu Steini und kraulte ihn zwischen den Hörnern. »Was ist los alter Junge?«, fragte sie mit einschmeichelnder Stimme.
Steini scharte wieder mit den Hufen. Das Geräusch ließ Jana genauer nach unten sehen. Es platschte mehr, als dass ein Kratzen zu hören war. Sie stand bis zu den Fußknöcheln in Wasser. Erschrocken kreisten ihre Augen durch das kleine Tal. Die Kesselwand wurde nass. Überall tropfte Wasser heraus. Es mochte ungefähr hundert Meter sein, bis oben, vielleicht auch mehr. Ein trockener Streifen am oberen Rand zeigte, wie hoch das Wasser stieg. Von hier unten sah er wie ein Strich aus.
»Wir müssen hier heraus. Der Kessel läuft voll Wasser.« Sie lief zu Marco und zerrte an seinem Arm. Er widersetzte sich heftig.
»Wir sind doch schon tot. Wir können nicht ertrinken.«
»Willst du es darauf ankommen lassen?« Sie fragte mit bitterer Miene. »Ich nicht.« Sie drehte ihm beleidigt den Rücken zu. »Zeig mir bitte den Weg nach oben«, bat sie Steini.
Die Geißen waren schon ein gutes Stück geklettert. Der Steinbock sprang auf den ersten kaum sichtbaren Absatz, den Jana unter keinen Umständen allein erreichen konnte. »Verdammt Marco. Hilf mir wenigstens, dort hochzukommen.«
Lustlos kam der Junge angeschlendert und hatte demonstrativ die Hände in die Taschen seiner Jeans gesteckt. »Du glaubst doch nicht, dass der blöde Ziegenbock uns einen Weg aus diesem Loch zeigt.«
»Bitte Marco«, sagte sie mit der demütigsten Stimme, die sie aufbringen konnte. Auch der Junge war ein Mann und sprang darauf an. Er lehnte den Rücken gegen die Wand und machte eine Räuberleiter. Das Wasser reichte schon bis zu den Knien. Die Beine starben ab, so kalt war es. »Halt«, stoppte sie ihn. »Du musst zuerst. Ich kann dich nicht hochziehen.« Er machte Jana Platz, trat in ihre verschränkten Hände und ertastete mit den Fingerspitzen einen kleinen Riss. Geschickt zog er seinen Körper hoch. Er reichte ihr umgehend die Hand und zerrte sie mit erstaunlicher Kraft auf den Absatz, auf dem sie kaum Platz fanden. Steini sah den beiden, einige Meter über ihnen, zu und schnaubte auffordernd. Zug um Zug machten Jana und Marco in die Höhe, um nach unendlich langer Zeit, schwer atmend auf einem größeren Absatz, eine Pause einzulegen. Das Wasser stieg und war nur weniger als einen halben Meter unter ihnen. Sie waren klatschnass. Der Fels schwitzte Wasser aus. Während des Aufstiegs tropfte das Nass unermüdlich auf sie herunter.
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