Jana beschleunigte den Schritt. Wenige Minuten später standen sie vor einer kleinen Hütte. Hütte war zu viel gesagt. Es mehr ein Holzunterstand, der mit Heu gefüllt war. Aber das Wichtigste war das kleine Rinnsal mit klarem Wasser. In einer Futterraufe lag trockenes Brot. Marco warf sich sofort auf den Boden und schlürfte gierig das Nass. Jana trat aus dem Unterstand und pfiff einen Dank in den Himmel, der von Lena erwidert wurde.
Nachdem sie von dem harten Brot gegessen hatten, fielen sie ins Heu und schliefen übergangslos ein. In der Nacht wurde Jana wach, weil sie sich beobachtet fühlte. Der Mond schien voll und rund auf die Lichtung und in ihren Unterstand. Marco schlief tief und fest. Sie stand auf und ging fröstelnd nach draußen in die kalte Nacht. Abseits stand ein Mensch. Im Licht des Erdtrabanten leuchtete die dunkelrote Kleidung. Rote Jeans und rotes Shirt. Ein Doppelgänger dachte Jana und ging furchtlos auf das Wesen zu, um nach wenigen Schritten innezuhalten. Das gab es doch nicht. Sie stand vor ihrem Zwilling. Ihr Gegenstück breitete die Arme aus, um sie zu umarmen. Grenzenlose Sehnsucht erfüllte sie nach der Berührung ihres Doubles. Zuneigung, Lust, Begehren und ein Gefühl, wie sie sich Liebe vorstellte, überschwemmten ihre Gedanken und ihren Körper. Jede Faser drängte in die angebotene Umarmung. Schmerzhaft bemerkte sie, was ihrem ganzen bisherigen Leben fehlte. Ihr Koma machte Sinn. Sie selbst suchte die Vollendung, die Verschmelzung mit ihrem Ich, mit ihrer fehlenden Hälfte. Jana ergab sich den Gefühlen, breitete ihre Arme aus und flog förmlich auf ihre fehlende Hälfte.
Der Schlag und der Schmerz kamen aus dem Nichts. Sie wirbelte durch die Luft und schlug einige Meter von ihrem zweiten Ich entfernt auf dem Boden auf. Steini stand schnaubend zwischen ihr und ihrem Zwilling. Sein Atem stieß in Nebelwolken aus den Nüstern und die Augen glühten rot. Er hatte seine mächtigen Hörner gesenkt und bannte Jana auf dem Boden.
Aus dem dunklen Himmel schoss, mit mächtigem Adlerpfiff, Lena herunter und versuchte der rot gekleideten Gestalt, die Augen auszukratzen. Bevor es dazu kam, war der Zwilling verschwunden.
Jana erinnerte sich mit Schrecken an die Bilder in der Zwischenwelt, wo die roten Zwillinge ihre Gegenstücke umarmten und verschwanden. Sie war, durch ihre Dummheit, fast zu Tode gekommen. Noch benommen stemmte sie die schmerzenden Glieder hoch, um sich bei ihren beiden tierischen Freunden zu bedanken. Doch die waren verschwunden. Hatte sie einen Traum? Nein. Dazu schmerzte die Brust zu sehr, die Steini getroffen hatte. Schwerfällig schleppte sie sich zu ihrem Heulager und fiel, schon wieder schlafend, nieder.
Sie träumte. Eine der rot gewandeten Gestalten stand an Marcos Nachtlager und sah mit liebevollem Blick auf ihn hinunter. Jana bemerkte wie die Gedanken hinter der Stirn des roten Marco arbeiteten, und er versuchte, über die leuchtenden Augen, den Jungen zu wecken. Der echte Marco wurde unruhig und wälzte unruhig auf seinem Lager, hin und her. Die Augen seines Doppelgängers leuchten intensiver und das Gesicht des – wie soll ich es bezeichnen, schoss ihr unsinnigerweise durch den Kopf – Geisterwesens, zeigte die gleichen Gefühle, die sie bei ihrer Begegnung mit ihrem Ich empfunden hatte. Doch mit dem Abstand der Beobachterin in ihrem Traum erkannte sie den Egoismus hinter der Fassade. Dem Wesen ging es nur darum, bei seinem schlafenden Double die Empfindungen hervorzurufen, um die eigene Befriedigung zu stillen. Sie spürte die echte Sehnsucht des roten Marco und die Gefahr dahinter, sollte ihm nicht gelingen den Jungen auf seine Seite zu ziehen. Dann würde dieses Wesen Marco der Unterwelt, der Hölle, opfern.
Der Junge setzte sich verschlafen auf. Jana schreckte entsetzt aus ihrem Traum. Die Szene war tatsächlich Wirklichkeit. Marco hatte keine Beschützer wie sie. Er war dem Wesen ausgeliefert. Unwillkürlich pfiff sie den Adlerschrei heraus. Der Kopf von Marcos Zwilling ruckte zu ihr, und ein Blick voller Hass traf sie, bevor er verging.
»Was ist los? Weshalb weckst du mich?« Marco rieb verschlafen seine Augen. »Ich hatte einen schönen Traum. Zum ersten Mal. Nach wer weiß wie langer Zeit.«
»Schlaf weiter«, sagte sie und beobachtete, wie er zurücksank. Seine gleichmäßigen Atemzüge zeigten, dass er wieder schlief. Sie hatte im Moment keine Lust auf eine Unterhaltung und musste nachdenken. Der Gedanke, der in ihr aufkam, mochte irgendwann Bedeutung haben.
Den schweren Gedanken folgte ein leichter beschwingter Traum, der sinnlos war, jedoch eine Bedeutung haben musste, die sie noch nicht erfassen konnte. Sie flog mit Lena durch die klare Bergluft und entdeckte Marco auf einem Gipfel, wo er versuchte das Gleichgewicht zu halten, um nicht abzustürzen. Dabei wusste sie genau, dass er neben ihr fest schlief. Sie sank ihm entgegen und gab ihm das Gleichgewicht, das er benötigte, um gefahrlos zu stehen. Gemeinsam schwebten sie in die Luft und die Illusion verblasste.
*
Kapitel 13 Professor Lauten
»Was ist schief gelaufen?« Heidi Meier fragte Peter Lange, mit dem sie eine lange Beziehung verband. Lange hätte eigentlich Kurz heißen müssen, denn er war gerade einmal eins fünfundsechzig groß. Seine Kollegin und Geliebte, fünf Zentimeter größer. Beide waren schlank. Während ihr lockiges Haar braun gefärbt war, hatte er einen grauen fast weißen Kurzhaarschnitt.
»Faktisch alles. Lauten hat die Enkelin unseres hochgeschätzten ehemaligen Kollegen van Basten erwischt.« Sein Ton besagte, dass er den Betreffenden alles andere, als hoch schätze.
»Du bist verrückt«, rutschte es Meier heraus.
»Wenn ich es dir sage.« Er rührte in einem Topf. Sie stellte zwei Teller auf den Tisch. Heute gab es Spaghetti, das ging schnell. »Und als er es bemerkte, war es zu spät. Erst kurz bevor wir sie aus dem Koma holten, erfuhren wir davon. Dann wurde Lauten übermütig, ehrlich gesagt, er ist ein Ar… In seinem Bemühen Gott zu spielen, wurde er übermütig. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nichts von van Basten, vor allem nicht, dass er uns zu Narren gemacht hat.«
»Mein Gott, lasse dir die Worte nicht aus der Nase ziehen. Ich weiß immer noch nicht, was geschehen ist.« Heidi Meier stand neben am Herd und stieß auffordernd mit der Hand gegen ihn.
»Ich bin doch dabei«, antwortete er gelassen und prüfte den Härtegrad der Nudeln. »Heiner verschwieg uns, dass er Klaus im Krankenzimmer des Mädchens gesehen hatte. Wir hätten das Projekt abgebrochen, aber das weißt du auch. Stell dir vor, eines der ersten beiden Objekte, die unseren Durchbruch sichern sollten, ist die Enkelin unseres alten Kollegen.« Er schüttete kopfschüttelnd die Spaghetti ab. »Das habe ich schon einmal gesagt, ich weiß es. Aber es ist unfassbar für mich. Das Mädchen hat sein Gedächtnis behalten. Das Gehirn ist nicht leer, obwohl wir die Droge genau berechnet hatten«.
»Unmöglich«, stieß Heidi Meier erschrocken hervor. »Nie ist eines der Objekte ohne Gehirnschädigung nach Einnahme der Medizin davon gekommen. Und gerade bei dem Jungen und dem Mädchen waren wir uns sicher, dass alle Gehirnspeicher nach dem Reifeprozess leer sind. Wie sollten wir sonst unsere Gedanken transformieren?« Ihr Gesicht verlor jede Farbe und wurde schneeweiß. Die Hand fuhr zum Herz.
»Vielleicht hätten wir sie gleich nach der Explosion behandeln sollen.« Peter Lange schöpfte zweimal Tomatensoße mit der Suppenkelle auf die Spaghetti.
»Das hätte dem Reifeprozess geschadet«, Meier stand im Raum und ihre Gedanken arbeiteten. »Was haben wir falsch gemacht?« Sie erwartete keine Antwort. »Enkelin von van Basten? Es war egal, wen wir nahmen. Ich glaube nicht, dass unsere Klientin genetisch so geprägt ist, dass Klaus Genie auf sie übergegangen ist, wenn du das sagen willst. Zur Veranlagung gehört permanente Erziehung. Van Basten ist damals spurlos verschwunden. Er war balla balla. Seine Tochter, ich glaube Sandra, war noch ein Kind.«
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