1 ...6 7 8 10 11 12 ...17 Oh, verdammte Scheiße!
Er löst die Umarmung und kann unmöglich meine geröteten Wangen übersehen. Verlegen senke ich den Blick. Henry hingegen scheint kein bisschen aufgeregt zu sein. Unwillkürlich frage ich mich, wie oft er das schon gemacht hat, mit einer völlig fremden Frau ins Bett zu gehen.
"Und? Was denkst du?", fragt er und breitet die Arme aus. Er grinst, als würde er sich über meine Nervosität lustig machen.
"Dass du gar nicht aussiehst, wie ein Zuhälter", rutscht mir heraus und ich würde mir am liebsten die Zunge abbeißen. Henry jedoch fängt schallend an zu lachen, legt dann den Arm um mich und bewegt mich zum Aufbruch.
"Da bin ich ja beruhigt."
Nein, er sieht wirklich nicht aus, wie ein Zuhälter. In meinem Kopf hat Henry tausend Verwandlungen durchgemacht. Zuerst hoffte ich ihn attraktiv, während wir anfingen zu schreiben, stellte ihn mir gutaussehend und vielleicht blond vor. Als er mir von seiner Studie berichtete, verwandelte sich der attraktive Mann in ein schmieriges, dickbäuchiges, fetthaariges Ekel. Nachdem ich seinem Vorschlag jedoch zustimmte, unter der Bedingung, vorher ein Foto von ihm zu Gesicht zu bekommen, kam ich allmählich von dieser Vorstellung runter. Trotzdem hegte ich bis zuletzt Zweifel, ob er mir nicht einfach ein Bild von einem Internet-Model geschickt hat.
Aber er hat nicht gelogen. Er ist dieser gutaussehende Mann, dunkelhaarig, ein leicht blasser Teint und undurchdringliche, braune Augen. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, warum ein Mann wie er es nötig haben sollte, von Hamburg nach Kassel zu fahren, nur um Sex zu bekommen. Also vielleicht waren seine Worte doch ernst gemeint. Womöglich hat er dieses Angebot tatsächlich um meinetwillen gemacht.
Wir gehen zur Straßenbahnhaltestelle, wo er seine Tasche abstellt und in seine Jacke schlüpft. Also ist es ihm doch zu kalt. Aber ich bin froh, dass er mich losgelassen hat. Nicht, weil mir seine Berührung unangenehm wäre, nein, ganz im Gegenteil. Allerdings habe ich immer noch Angst, wir könnten jemanden treffen, den ich kenne.
"Du wirkst nervös", sagt Henry und grinst schon wieder. Ich schnaube nur und weiche seinem Blick aus. Das bringt ihn zum Lachen.
"Und du machst dich lustig über mich. Wenn du so weitermachst, lass ich dich hier stehen." Das würde ich niemals tun, aber das muss er ja nicht wissen.
Er lächelt.
"Siehst du? Dein Selbstvertrauen wächst schon. Was allein schon das Angebot für ein bisschen Sex bewirken kann..."
Ich ignoriere ihn, tue so, als würde ich mich nach der Bahn umsehen, obwohl auf der Anzeige noch zwei Minuten Wartezeit angekündigt werden.
"Du solltest dich etwas entspannen", sagt Henry nur. Ich schweige, weiß nicht, was ich sagen soll. Oh Gott, gleich alleine mit ihm in meiner Wohnung zu sein... Nein... Das ist einfach zu viel. Was habe ich mir dabei gedacht? Ein wildfremder Mann. Ich kann doch keinen Kerl in meine vier Wände lassen, den ich im Grunde kein bisschen kenne. Von dem ich nur weiß, dass er eine Studie über Prostitution in der Nachbarschaft durchführt. Ich bin so dumm. Er könnte mich auch zerstückeln und in meiner eigenen Gefriertruhe einfrieren oder so. Okay, ich habe keine Gefriertruhe. Das beruhigt mich dann doch etwas...
"Hast du Hunger?", frage ich. Vielleicht können wir einen Abstecher machen und vorher was essen gehen. Wenn ich nur irgendwie schaffen kann, etwas entspannter zu werden... Aber dafür brauche ich Zeit.
Er grinst schon wieder. Dabei wirkt er überheblich und ich möchte ihm am liebsten eine verpassen.
"Hunger auf dich, ja."
Hitze schießt mir in alle Glieder und mein Gesicht brennt. Aber Henry lacht nur. Plötzlich weiß ich, dass er einen Scherz gemacht hat. Er zieht mich nur auf, weil mir die Aufregung offenbar ins Gesicht tätowiert ist.
"Du bist gemein", schmolle ich. Er jedoch streckt die Hand aus und hebt mein Kinn an.
"Vielleicht brauchst du eine Entschädigung?", fragt er leise und kommt mir ganz nah. Mir stockt der Atem, während mein Blick auf seine Lippen fällt. Oh verdammt. Genau in diesem Augenblick wird mir klar, dass mein letzter, richtiger Kuss fast genauso lang her ist, wie der Sex. Beinahe ebenso sehr, wie ich will, dass er mich loslässt, sehne ich mich danach, dass er seinen Mund fest auf meinen presst. Oh Gott... Allein die Vorstellung...
"Willst du?", flüstert er, kommt mir noch näher und ich vergesse alles. Meine Sorge, jemand könnte uns sehen, überhaupt wo wir sind, einfach alles. Ich will das hier, jetzt!
"Ja", hauche ich, doch da fängt er wieder an zu lachen. Diesmal dauert es einen Moment, bevor ich begreife, dass er mich schon wieder für dumm verkauft hat. Wütend über seinen Scherz boxe ich ihm gegen die Schulter, verschränke dann die Arme vor der Brust und schmolle. Am Ende ist er gar nicht hier, um Sex mit mir zu haben. Womöglich will er sich nur über mich lustig machen und dazu überreden, an seiner Studie teilzunehmen. Aber das kann er vergessen.
"Arsch", murmle ich.
"Du hast es irgendwie provoziert", sagt er. Ich schmolle weiter, auch dann noch, als die Bahn kommt. Die ist zum Glück nicht sehr voll und wir bekommen einen Sitzplatz nahe bei der Tür. Die Fahrt vom Bahnhof Wilhelmshöhe bis zu meiner üblichen Haltestelle dauert bloß fünf Minuten. Mit jedem Meter wächst meine Angst. Meine Zweifel daran, dass ich einen wildfremden Mann in meine Wohnung lasse. Und die Tatsache, dass er nun schweigt, kaum von sich aus das Gespräch sucht, macht es nicht gerade besser.
Aber ich kann jetzt ohnehin keinen Rückzieher mehr machen. Er ist hier, ist extra hergekommen. Und es war meine Entscheidung. Ich habe es so gewollt, weil ich seit einer halben Ewigkeit keinen Sex hatte. Ich werfe Henry einen Seitenblick zu, betrachte kurz sein Profil und beiße mir auf die Unterlippe. Wahrscheinlich kann ich froh sein, dass ein Mann wie er überhaupt in Erwägung zieht, Sex mit mir zu haben. Schließlich hat er nichts davon, wenn man die Tatsache außer Acht lässt, dass er Befriedigung erhält. Im Gegenteil. Er hat die Zugfahrt bezahlt und eine Menge Mühe auf sich genommen.
Genau da wendet auch er mir den Blick zu, hat wohl gemerkt, dass ich ihn beobachte.
"Na? Bist du froh, dass ich nicht aussehe, wie ein Zuhälter?" Er grinst wieder. Diesmal erwidere ich es. Okay. Ich muss selbstbewusster werden.
"Offen gestanden bin ich darüber sehr froh."
Genau da wird unsere Haltestelle angekündigt und ich bedeute Henry aufzustehen. Wir sind die Einzigen an dieser Tür und als die Bahn hält, strömt mir endlich wieder kühle Luft ins Gesicht. Ich habe es kaum wahrgenommen, doch mein Kopf ist heiß von dem Blut, das mir in die Wangen geschossen ist.
Noch ein paar Minuten. Dann sind wir allein. Ob er gleich loslegen will? Oh mein Gott, mein Magen rotiert.
"Wollen wir vielleicht noch was essen gehen?", frage ich, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, etwas herunterzubringen. Doch er schüttelt ohnehin den Kopf.
"Hier kann man sich doch bestimmt von irgendwo was liefern lassen?"
"Klar", sage ich und versuche unauffällig tief durchzuatmen. Was, wenn er plant jetzt gleich mit mir zu schlafen? Wenn er nicht vorhat, darauf Rücksicht zu nehmen, dass mein sehr geringer Erfahrungsschatz dem einer Jungfrau nahe kommt?
Wir erreichen das Haus in dem sich meine Wohnung befindet und ich ziehe mit zitternden Händen den Schlüssel aus der Tasche. Es kostet mich unheimlich viel Konzentration, ihn ins Schlüsselloch zu befördern und Henry hereinzulassen. Ich schiebe meine Katzen zurück, die neugierig meinen Gast beschnüffeln wollen und er begrüßt sie freundlich. Ich zeige ihm kurz die Zimmer, führe ihn durch alle Räume und bin die ganze Zeit verlegen um Worte.
"Ist es okay, wenn ich unter die Dusche steige, bevor das Essen geliefert wird?", fragt Henry, als mir die App verkündet, dass wir über eine Stunde auf unsere Bestellung warten müssen. Freitagabend eben.
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