Zauberin zuletzt gesagt hatte; und weil es nun einmal
bestimmt war, dass das eintreten sollte, bereitete man
für die Prinzessin ein Bett im schönsten Zimmer des
Palastes, zog ihr die schönsten Kleider an, die sie besass,
und legte sie auf das Bett. Wer sie sah, vermeinte,
sie schliefe: denn ihre Lippen waren immer noch
rot, ihr Gesicht war in keiner Weise verändert und sie
atmete leise. Der König ordnete an, dass niemand sie
je berühren dürfe und gebot jedem dieses Zimmer zu
verlassen.
Jene Zauberin nun, welche dem Schicksale der
Prinzessin diese Wendung gegeben hatte, lebte in
einem gewissen Lande, das von jenem Orte zwanzigtausend
Meilen entfernt lag. Sie hatte einen Diener
von kleinem Wüchse, der ein Paar Stiefel besass, mittels
welcher er mit einem Schritte fünfzig Meilen zurücklegen
konnte. Der kleine Kerl brach sogleich auf
und benachrichtigte die Zauberin vom Schicksale der
Prinzessin; und die Zauberin traf in kurzer Zeit in
einem Wagen von Feuer ein; sie kam aus der Luft
herab, und vier Drachen zogen den Wagen fort. Der
König ging, sie zu empfangen, und brachte sie hinein
zu seiner Tochter. Die Zauberin erklärte ihm, dass
alles, was er angeordnet hatte, gut sei; aber, klug wie
sie war, bedachte und erkannte sie, dass die Prinzessin,
wenn sie erwachen würde, sich in diesem alten
Palaste ja ganz verlassen finden müsste. Was tat sie
deshalb? Mit einem Stabe, welchen sie bei sich hatte,
berührte sie alles, was sich in diesem Palaste befand,
abgesehen vom Könige und der Königin, – also:
Damen, Kämmerer, Pagen, Köche, Diener, Kutscher,
Grooms, Rosse, sonstige Tiere und auch eine kleine
Hündin, die auf dem Bette der Prinzessin lag; und
indem die Zauberin diese berührte, schliefen sie in der
Stellung, die sie innehatten, ein: der eine im Sitzen,
der andere im Stehen, der dritte die Treppe hinaufsteigend,
der vierte Musik machend, der fünfte essend.
Auf dem Feuer stand das Essen: das Feuer hielt im
Brennen ein, und das Essen kochte nicht fertig. Der
König und die Königin küssten ihre Tochter, verliessen
die Burg und liessen Anschlagzettel an den
Ecken der Häuser anschlagen: niemand dürfe sich der
Burg nähern. Aber das Verbot war gar nicht nötig,
denn schon nach einer Viertelstunde sprossten in
Menge Nesseln und Dornsträucher empor und wuchsen
höher und höher, bis sie die Burg verhüllten und
von ihr nichts mehr als die Türme sichtbar blieben.
Die Zeit verstrich, – zehn Jahre, zwanzig Jahre, –
der König und die Königin starben; andere kamen; –
sechzig Jahre, achtzig Jahre, – schließlich hundert
Jahre. Eines Tages nun – nach hundert Jahren also –
zog der Sohn des damaligen Königs, der in keiner
Weise mit der Familie jener Prinzessin verwandt war,
auf die Jagd und erblickte jene Türme, die zwischen
Nesseln und Dornen versteckt lagen. Er fragte, was
das für eine Burg sei, und der eine gab ihm dies, der
andere das zur Antwort! Doch niemand konnte ihm
einen genauen Bescheid geben. Zuletzt kam der Prinz
mit einem alten Hirten zusammen, der ihm berichtete:
»Fürst, es ist länger als fünfzig Jahre her, – da hat mir
mein Vater gesagt, dass in jenem Palaste sich eine
Prinzessin befände, die hundert Jahre schlafen müsse
und wieder erwachen werde, wenn ein Prinz zu ihr
käme, welcher sie dann heiraten werde.« Als der Prinz
diese Rede hörte, liess er alle seine Leute hinter sich
und machte sich ans Werk, die Dornen zu durchschneiden,
um ins Schloss zu gelangen.
Doch zu seiner Verwunderung begannen die Dornen
sich von selbst zu trennen und liessen ihn durch,
um sich, als er durch sie hindurchgegangen war, hinter
ihm wieder zusammenzutun. Er betrat den Palast
und erschrak heftig. Er sah hierhin und dahin: da
lagen Menschen und Tiere auf den Erdboden gestreckt,
wie tot! Dort sass einer noch am Tische, mit
einem Weinglase, das zur Hälfte leer war, in der
Hand! Der Prinz betrat dann den Schlossplatz und erblickte,
als er die Marmortreppe hinaufstieg, in der
Hauptwache die Soldaten, in einer Reihe stehend, mit
den Musketen in ihren Händen. Dann betrat der Prinz
den Prachtsaal und sah Leute dasitzen oder dastehen;
wieder andere sahen aus, als ob sie tanzten. Er erblickte
eine Dame vor einem offenen Klavier, die aus-
sah, als ob sie spielte; eine andere Dame schien,
neben ihr stehend, zu singen, – aber alle Personen
schnarchten, was sie konnten!
Schliesslich bemerkte der Prinz ein ziemlich dunkles
Zimmer; er ging hinein und sah auf einem Bette
eine Jungfrau liegen, gar schön, von etwa fünfzehn
Jahren, mit allerschönsten Gewändern angetan, – ein
Engelsgesicht! Leise trat er an sie heran; da aber die
Zeit gekommen war, dass sie wieder erwachen sollte,
so wurde sie munter; und sie blickte nach ihm mit
einem liebessüssen Blick und sprach zu ihm: »Fürst!
Wie lange hast du gesäumt zu kommen! Wie lange
habe ich dich erwartet!« Als der Prinz sie so zu ihm
sprechen horte, gewann er sie gar lieb, denn sie gefiel
ihm so sehr. So unterhielten sie sich denn etwa vier
Stunden lang in einem fort, ohne dass sie die Zeit gewahrwurden.
Unterdessen waren alle im Palast aufgewacht:
der Koch kochte das Essen fertig, die Wache
marschierte weiter, die Diener liefen die Treppe hinauf
und hinab, der Kutscher spannte die Karosse an, –
kurz und gut, jeder führte das zu Ende, womit er hundert
Jahre vorher beschäftigt gewesen war, als er in
Schlaf versank. Aber da die Leute hundert Jahre lang
nichts gegessen hatten, so waren sie nahe daran, Hungers
zu sterben.
Schliesslich öffnete der Haushofmeister die Türe
und meldete den Wartenden, dass die Tafel angerich-
tet sei, – und jedermann ging essen. Nach dem Mahle
traute der Priester des zum Schlosse gehörigen Dorfes
die beiden jungen Leute. Am nächsten Tage verliess
der Prinz am frühen Morgen die Prinzessin, um sich
nach dem Palast seines Vaters zu begeben, denn es
waren ihm eine Menge Bedenken aufgestiegen.
Als er zum Könige gelangte, fragte ihn dieser, was
ihm geschehen sei, und der Prinz erwiderte, er habe
sich auf der Jagd verirrt und in einer Höhle übernachtet.
Der König, der ein sehr gutmütiger Mann war,
glaubte ihm; seiner Mutter aber begann, als sie nachher
sah, dass ihr Sohn täglich auf die Jagd zu gehen
begann, ein schlechter Gedanke aus ihrem Hirn zu
entspringen. Indessen führte der Prinz sein Leben
volle zwei Jahre auf diese Art und Weise fort, und in
dieser Zeit wurden ihm zwei Kinder geboren; das ältere
(ein Mädchen) nannten sie »Sonne« und das jüngere
(einen Knaben) nannten sie »Mond«, denn die
Beiden waren sehr schön. Der Prinz getraute sich niemals,
das Geheimnis seines Herzens seiner Mutter anzuvertrauen;
denn seine Mutter besass, obwohl Königin,
ein sehr hartes Herz, und wenn sie einen Knaben
oder ein Mädchen sah, so wollte sie diese auffressen;
der Prinz aber hatte Angst, dass, wenn er seiner Mutter
erzähle, er sei verheiratet und habe Kinder, sie sie
ihm auffressen möchte. Als dann zwei Jahre hernach
der König gestorben war und dieser Prinz König an
seiner Statt geworden war, – da wurde die Prinzessin
Königin und zog in die Stadt in den Königspalast ein,
und die Bewohner der Residenz empfingen sie sehr
wohl.
Читать дальше