55 Meter unter dem jetzt absprungbereiten, nur noch für Sekundenbruchteile am Rand des Transportcontainers stehenden Wiegand, hält Hermann Berns eine Filmkamera auf ihn gerichtet. In verwacklungssicherer Aufnahmehaltung, breitbeinig und mit zurückgebogenem Rücken, steht er neben Ingrid Keydel auf dem Eldorado-Rasen, die wie gebannt nach oben blickt.
Wiegand ist seit Jahren mit ihm eng befreundet. Einer der wenigen Menschen, die er vermissen würde, wenn sie aus seinem Leben gestrichen wären. Je länger ihre Freundschaft dauert, desto ungewöhnlicher erscheint sie ihm. Strategie und Taktik, die oft Zauberdienste leisten, um menschlich weiterzukommen, hat es, Wiegands feste Überzeugung, bei ihnen zu keiner Zeit gegeben. Für ihn ein Beweis echter Freundschaft, die sich wie von selbst entwickelt hat. Ein Glücksfall, den er zu schätzen weiß.
Sein Sprung bildete in den vergangenen Tagen den Mittelpunkt, um den ihre Gespräche immer wieder von Neuem kreisten. Was mit ihm zusammenhing, wurde oft bis ins Detail bespiegelt. Wiegand genoss die spielerische Leichtigkeit, die Hermann dabei zeigte; als würde er mit den Einzelheiten seines Sprungs wie mit Bällen jonglieren. Die Sprunggespräche mit Hermann wirkten klärend und entspannend, waren wichtig für eine gute Einstellung. Sein Sprung wurde zu einer Herausforderung, die er, daran zweifelte er nicht, sowohl körperlich als auch geistig beherrschte. Eine Gewissheit, die für ihn ein inneres Sicherungsseil bedeutete. Er gewann den Eindruck, dass dieser Doppelsalto mit anschließendem Hecht das bisher am genauesten durchdachte und am eingehendsten besprochene Ereignis in seinem Laben ist.
»Zu meinem Sprung fällt mir eigentlich nichts Neues mehr ein, Hermann«, sagte er gestern Morgen zu ihm, als er ihn vor den Proben in seiner am Stadtrand von München gelegenen Wohnung besuchte.
»Aber mir. Was würde passieren, Kurt, wenn du mitten im Sprung einen starken Juckreiz verspüren würdest?«, fragte Hermann, der ihm gegenüber auf einem der rechtwinklig angeordneten Sitzelemente aus anthrazitfarbenem Leder saß. Wiegand stutzte, sah forschend in Hermanns Gesicht, der keine Miene verzog, besann sich kurz, schüttelte dann unwillig den Kopf.
»Gar nichts. Einen Juckreiz würde ich nämlich überhaupt nicht registrieren. Ich werde ganz Sprung sein, nichts anderes wird es dann für mich geben. Sag mal, meinst du die Frage wirklich ernst?«
»Weiß es selbst nicht so genau. Bin gerade erst darauf gekommen. Unsinnig scheint mir die Frage nicht zu sein. Was wäre, wenn, Kurt?«, fragte er und drückte seinen linken Zeigefinger gegen sein Kinn.
»Sollte es mich wider Erwarten doch jucken, Hermann, schön, dann werde ich es eben jucken lassen. Ein paar Sekunden später kann ich mich ja kratzen.«
»Also wird's auch dabei keine Probleme für dich geben«, sagt er lächelnd.
»Bestimmt nicht. Ich fühle mich ganz sicher. Ich brauche nur noch zu springen. Alles wird reibungslos verlaufen.«
»Natürlich. Und ich werde dich dabei filmen. Das wird für mich ein ganz besonderer Kurzfilm. Kurt Wiegand Sensationsdarsteller. Dauer: ungefähr sieben Minuten. Ganz dokumentarisch.«
»Bin wirklich gespannt auf diesen Film, Hermann.«
»Ich auch.«
»Gut, dass morgen alles vorbei ist. Ich muss dauernd an meinen Sprung denken.«
»Kann ich gut verstehen, Kurt. Ist ja auch alles andere als alltäglich, was du morgen machst. Ein Höhepunkt in deinem Leben. Im sportlichen und im finanziellen Sinne.«
»Stimmt.«
»Wenn ich bedenke, wie lange so mancher komplett langweilige Gedanken mit sich herumträgt, sie knetet und damit auch noch andere belästigt, finde ich, dass dein Sprung genau den Stellenwert eingenommen hat, den er verdient. Nicht nur bei dir. Warum sollte dieser Höhepunkt deiner bisherigen Laufbahn nicht bei uns eine Zeit lang im Mittelpunkt stehen? Morgen zählt dein Sprung schon zur Vergangenheit. Auf eine Art bedauerlich. Für mich ist dein Sprung, genauer gesagt, dein Kunstsprung, noch immer äußerst interessant.«
»Trotzdem. Noch ein Tag, dann reicht es mir aber mit meinem Sprung«, sagte Wiegand, verschränkte seine Arme und lehnte sich im Ledersessel zurück.
»Danach geht's auf zu neuen Taten«, sagte Hermann in singendem Tonfall. »Kleckerengagements wirst du gar nicht mehr nötig haben, um über die Runden zu kommen. Das wird dein Durchbruch. Du wirst ausgebucht sein. Wart's nur ab. Ich bin da ganz optimistisch.«
Er sah auf seine Uhr. »Noch Zeit satt. Du probst mit Norbert ja erst um elf, und ich brauche heute auch nicht eher im Studio zu sein.«
Hermann Berns, der den jetzt absprungbereiten Wiegand filmt, arbeitet als Kameramann beim Fernsehen. Vor acht Jahren lernten sie sich kennen, zu einer Zeit, als Hermann noch Experimentalfilme drehte, für die er zwar Förderpreise erhielt, die ihm aber sonst nichts einbrachten. Mit großer Begeisterung und beinahe übergangslos wechselte er schließlich zum Dokumentarfilm über und machte sich nach einigen Anlaufschwierigkeiten mit einer Filmserie über gesellschaftliche Außenseiter einen Namen. Weil er mit seinen Dokumentarfilmen zu wenig verdiente, um seinen Lebensunterhalt zu sichern, ging er vor drei Jahren, eine Sanierungsmaßnahme, wie er es nannte, zum Fernsehen, wo er als gut bezahlter Kameramann oft das filmt, was für ihn belanglos ist. Er hat sich eine ironische Arbeitseinstellung zugelegt, mit der es ihm gelingt, jetzt auch die seichtesten Fernsehbeiträge ohne Ekelgefühle abzudrehen.
Sein Filmtagebuch ist seine Leidenschaft. Je älter er wird, vor Kurzem ist er 29 geworden, desto stärker bestimmt es ihn. Er führt es mit dem Bewusstsein, auf diese Weise die für ihn größtmögliche Freiheit beim Filmen zu erreichen, dabei Stationen seiner Lebensgeschichte aufzunehmen und über die Zeit zu retten. Da er sich als Augenmensch versteht, kommt er sich mit seinem Filmtagebuch am nächsten. Wenn er daran arbeitet, dann wird die Kamera, wie er sagt, zu seinem dritten und besten Auge, das eine ganz persönliche Auswahl trifft. Neben Szenen aus seinem Privatleben, Aufzeichnungen unterschiedlichster Art, die häufig Zufallsprodukte sind und in sich abgeschlossenen Kurzfilmen von wenigen Minuten Dauer, der er vorher genau geplant hat, entstehen so auch schnelle, Fernsehsendungen und Zeitungstitelseiten benutzende Bildfolgen zur Zeitgeschichte, die für ihn im Gegensatz zu Wiegand mit zu seinem Leben gehört. Die ständig wachsende Zahl der Spulen seines Filmtagebuchs, die er chronologisch in einem feuersicheren Stahlschrank gestapelt hat, enthalten seinen immer länger werdenden Lebensfilm, von dem er so lange Fortsetzungen drehen will, wie er eine Kamera vor sein Auge halten kann. Zu Beginn jedes Jahres mischt er aus dem angehäuften Filmmaterial der vergangenen Monate seinen Jahresfilm, wobei er die für ihn wichtigsten Ausschnitte zunächst kopiert, dann in zeitlicher Reihenfolge zu seinem eigenen Jahresrückblick anordnet. Er beabsichtigt, demnächst die bereits entstandenen Jahresfilme, die er nur Wiegand zeigt, auf eine höchstens vier Stunden lange Filmauslese zusammenzuschneiden, um, wie er sagt, zu sehen, was dann von seinem Leben übrig bleibt.
Von Natur aus ungelenkig und mit einem unüberwindlichen Hang zur Bequemlichkeit, nimmt er am Sportgeschehen nur als Zuschauer teil, wobei er Leichtathletikveranstaltungen bevorzugt. Im Sport herumzustümpern, sich wie so viele eine Fitness-Disziplin zu verordnen, dazu könne er sich nicht durchringen. Er würde sich lächerlich vorkommen, wie beim Schulsport früher, er sei nicht zum Sporttreiben gemacht und im Übrigen schwitze er nicht gerne. Er bewege lieber seine Kamera. Noch immer versucht Wiegand ihn davon zu überzeugen, dass er schon aus Gesundheitsgründen seinen Körper fordern müsse. Doch ohne großen Erfolg. Zu mehr als leich-ten, von Wiegand zusammengestellten gymnastischen Übungen lässt er sich nicht bewegen. Voller Aktivität sind seine Augen, Augen, wie sie Wiegand noch bei keinem anderen gesehen hat. Wenn sie sehbewegt sind, scheint es, als würde Hermann mit ihnen filmen. In seinem breitflächigen Gesicht, unter dem sich ein Doppelkinn zu wölben beginnt, bilden sie sein besonderes Kennzeichen. Er bewegt lieber seine Augen und seine Kamera, er ist eben ein Augenmensch, sagt sich Wiegand gelegentlich. Er hofft, dass Hermann bald eine bessere und gesündere Einstellung zu seinem Körper gewinnt.
Читать дальше