Schwerfällig richtet sich Wiegand auf. Er balanciert seinen Körper auf dem unter seinen Füßen federnden Luftsack aus, indem er seine Beine spreizt, mit seinem Rumpf kurze Pendelbewegungen nach links und rechts macht und seine Arme ausstreckt. Er bleibt einige Augenblicke stehen, sieht um sich, nur den blauen Luftsack wahrnehmend. Er zögert, weiß noch nicht, von welcher Stelle aus er herunterspringen soll, geht dann mit stapfenden Schritten über die elastische Masse des Luftsacks zu dessen vorderer Längsseite. Aus dem Publikum, das als eine sich auflösende Menschenmasse in sein Blickfeld kommt, schallt Beifallsklatschen zu ihm hoch. Er hört es zwar, aber es bedeutet ihm nichts. Er fühlt sich leer. Er senkt seinen Blick, starrt auf das Blau unter ihm, das sich unter seinen Füßen verformt. Während er in drei Metern Höhe sich dem Rand des Luftsacks nähert, empfindet er sich selbst als einen einzigen Fremdkörper. Vorsichtig setzt er sich an den Rand, stützt seine Hände auf, gleitet dann in Rückenlage einen Moment am Luftsack entlang nach unten, löst sich von ihm und lässt sich mit lang gestrecktem Körper aus nur noch geringer Höhe fallen. Er kommt mit beiden Füßen gleichzeitig auf dem Rasen von Eldorado auf, geht dabei in die Kniebeuge, landet weich. Seine Augen blicken auf das Grün unter ihm. Verwundert zieht er seine Augenbrauen zusammen, sieht genauer hin, doch der Anblick ändert sich nicht. Das Grün scheint von einem seidigen Glanz überzogen zu sein. Ein fremdartiger Reiz geht davon aus. Er beginnt sich tiefer herunterzubeugen, möchte mit beiden Händen in dieses glänzende Grün greifen, hört aber jetzt in seiner Nähe die laute Stimme von Mander, die ihn hochschreckt.
»Bravo! Das war große Klasse. Ein toller Sprung. Mannomann, war das spannend. Richtig Herzklopfen habe ich dabei gekriegt. Was müssen Sie für Nerven haben! Die Leute sind begeistert. Klatschen noch immer. Eine prima Show haben Sie da geliefert«, hört er.
Sofort wird ihm alles wieder bewusst. Mander steht direkt vor ihm, hebt den Scheck erst wedelnd in die Höhe, überreicht ihn dann Wiegand, der ihn kurz überprüft. »5000,- Deutsche Bank München«, liest er. Das wär's also, denkt er und steckt den Barscheck in die rechte Seitentasche seines mit »10 Jahre Eldorado« bedruckten Overalls. Er sagt kein Wort, sieht Mander kühl an, der sein Gesicht zu einem Grinsen verzieht.
»Sie waren wirklich gut. Ich gebe Ihnen noch einen Tausender extra.«
Zornig ballt Wiegand seine rechte Faust, dieser Mistkerl, will in dieses grinsende Gesicht vor ihm schlagen, beherrscht sich aber, öffnet seine Hand wieder und lässt sie in die Tasche gleiten, wo der Scheck liegt.
»Sehr edel«, sagt er unfreundlich.
Miss Bayern, die hinter Mander gestanden hat, kommt hochbeinig und schwerbrüstig auf ihn zu, stellt sich mit einem Reklame-Lächeln in ihrem zu süßen Gesicht nahe vor ihm hin, legt ihre Arme um seine Schultern und drückt ihm wie verabredet zwei Show-Küsse auf beide Wangen, geht dann sofort, als wäre sie so dressiert, mit wiegenden Schritten zu Mander zurück, stellt sich dicht an seine Seite und richtet ihren Körper, den ihr auf Männerträume zugeschnittenes Fantasiekostüm stark betont, kokett aus, dabei mehrmals die Stellung von Standbein und Spielbein verändernd. Erst jetzt erblickt er Ingrid, die sich schnell und mit ernstem Gesicht von links nähert, hinter ihr Hermann, der seine Kamera auf ihn gerichtet hält. Er breitet beide Arme aus und legt sie wenig später um Ingrids eng an ihn gepressten Körper.
»Gut, dass es jetzt vorbei ist«, hört er sie sagen.
»Ja«, erwidert er nur.
Alles kommt ihm unwirklich vor. Als wäre es ein Film, in dem er mitspielt. Er sieht, wie Hermann die Kamera herunternimmt und ein zufriedenes Lächeln in seinem Gesicht erscheint.
»Perfekt, Kurt. Ich hab' s ja gewusst«, sagt er und streicht über Ingrid hinweg mit seiner linken Hand kurz über Weigands Kopf.
»Man tut eben, was man kann. Schnell verdiente 6000 Euro, Hermann. 1000 Euro hat Mander gerade draufgelegt. Aber ich bin davon irgendwie geschafft. Ich weiß auch nicht, warum«, sagt er leise und langsam.
»Das kommt bestimmt von der großen nervlichen Anspannung«, meint Ingrid, die sich aus seinen Armen windet und ihn fragend ansieht. »Du siehst müde aus.«
»Ich fühle mich auch so.« Das Sprechen fällt ihm schwer. Alles ist ihm zu viel. Die fremden Menschen ringsum widern ihn an. Sie scheinen von ihm nicht genug bekommen zu können. Wie sie ihn noch immer begaffen und bezeigefingern, wie sie mit ihren Fotoapparaten auf ihn zielen! Sie sollen ihn in Ruhe lassen, sollen verschwinden. Es ist widerlich. Zum Davonlaufen.
»Was nun? Bleiben wir noch weiter hier? Wir wollten uns ja den Motorrad-Stunt ansehen und uns auch noch über diesen bibelfesten Gedächtniskünstler amüsieren. Auf den bin ich besonders gespannt. Das Paradebeispiel eines Erznarren. Hat wohl seinen Kopf total verbibelt. Oder willst du lieber gehen, Kurt?«, fragt Hermann.
»Ja. Mir reicht's irgendwie«, antwortet Wiegand.
Werner Schellhorn und die anderen Stuntmen kommen jetzt in sein Blickfeld. Sie standen vorhin abseits der Zuschauer, damit Hermann sie als eine zusammengehörige, sich von allen anderen unterscheidende Gruppe filmen konnte. Sie bahnen sich langsam einen Weg durch die noch immer dichte Menschenmenge, scheinen in einer ausgelassenen Stimmung zu sein. Wiegand wäre jetzt am liebsten allein. Er sieht zu dem Autokran und dem Transportcontainer, der noch in 55 Metern Höhe über ihren Köpfen schwebt.
»Vom Himmel hoch, da komm ich her«, scherzt Ingrid.
»Wieder zurück auf Mutter Erde«, erwidert Wiegand gequält lächelnd.
»Und ziemlich mitgenommen«, sagt Hermann.
»Schon mehr als ziemlich. Es wird aber gleich vorbei sein. Brauche wohl noch ein wenig Abstand. Wenn ich mich umgezogen habe, verschwinden wir von hier. Dieser verdammte Vergnügungspark widert mich an.«
»Wieso?«, fragt Ingrid, die erstaunt ihre Augenbrauen hochzieht.
»Ich weiß es selbst nicht. Ist eben so. Vielleicht hängt es mit meinem Sprung zusammen«, antwortet Wiegand und senkt seinen Blick. Der Rasen sieht ziemlich ungepflegt aus, ist an manchen Stellen trockengelb. Er zeigt nichts mehr von diesem Seidenglanz, der vorhin auf ihn einen so starken Reiz ausgeübt hat.
Es war bloß eine Täuschung, denkt er. Ich habe meine Sinne nicht alle beisammen gehabt. Wegen meines Sprungs. Irgendetwas ist mir dabei passiert. Ich muss weg von hier. Erst einmal weg von hier.
Jetzt stürzen sich Werner Schellhorn und die anderen Stuntmen auf ihn, verhalten sich ähnlich wie Fußballer, die einen Torschützen feiern. Wiegand lässt ihre Glückwünsche und ihre Ausgelassenheit beinahe teilnahmslos über sich ergehen. Sie sind enttäuscht, als er sich wenige Minuten später von ihnen verabschiedet, verstehen nicht, warum er nicht länger mit ihnen zusammenbleibt. Er will jetzt nichts erklären. Er kann nicht mit ihnen wie abgemacht seinen geglückten Sprung feiern. Sie haben sich darauf gefreut, können ihn nicht umstimmen, meckern. Es ist ihm alles zu viel. Dass er sie mit seinem Verhalten vor den Kopf stößt, ist ihm jetzt egal. Sein Angstanfall steckt ihm noch zu sehr in den Knochen. Er fühlt sich miserabel. Am liebsten würde er jetzt allein sein. In diesem verdammten Vergnügungspark »Eldorado« kann er nicht länger bleiben.
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