Igor – Eine nicht alltägliche Vampirgeschichte
Text: Achim Kaschel
Illustrationen: Ralph Becker
Copyright: © 2014 Achim Kaschel
published by: epubli GmbH, Berlin
Korrektorat/Lektorat: Martina Takacs
www.epubli.deISBN 978-3-7375-0954-1
Achim Kaschel und Ralph Becker veröffentlichen Ihre Geschichten und Cartoons unter dem Künstlernamen "brezeltaub".
www.brezeltaub.de
Igor und die Klarinette des Todes
Die folgende Geschichte handelt von Vampiren, Werwölfen, Hexen und vielen anderen Monstern und Kreaturen. Wer also von euch sehr sensibel oder zartbesaitet ist oder gar in seinem Freundeskreis als Weichei gilt, der sollte gar nicht erst in Erwägung ziehen, weiterzulesen, denn es wird ihm nicht gut bekommen. Wenn ihr aber eine Vorliebe für gruselige und brutale Monstergeschichten habt, für skurrile Gestalten und seltsame Wesen, für Bier, Blut und Friedhöfe, dann solltet ihr die folgende Geschichte unbedingt lesen. Denn genau von solchen Dingen erzählt sie. In unserer Geschichte ist die Hauptperson, also die Figur, um die sich alles dreht, ein Vampir.
Der ein oder andere von euch hat sicher schon einmal von Vampiren gehört und mag eine ungefähre Vorstellung davon haben, wie ein Vampir aussieht. Vielleicht habt ihr ja sogar schon einmal einen gesehen und mit ihm gesprochen oder eine Partie Schach mit ihm gespielt. Doch so einen Vampir wie den, von dem ich gleich berichte, habt ihr sicher noch nie gesehen.
Er selbst nennt sich Archie Leach, obwohl sein richtiger Name Igor Gorlukowicz ist, was nicht sehr spektakulär klingt, wie euch sicher aufgefallen ist. Genau das findet Igor auch und hat sich deshalb diesen, wie er meint, verführerischen Namen zugelegt. Verführerisch, das ist auch schon das nächste Stichwort. Von Vampiren wird ja oft gesagt, dass sie wahre Meister der Verführung seien und eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf das andere Geschlecht ausübten. Ich selbst bin schon einigen Vampiren begegnet und kann diesen Eindruck nur bestätigen. Bei Igor jedoch sieht das ein bisschen anders aus. Igor ist kein bisschen verführerisch, und das Einzige, worauf er eine immense Anziehungskraft ausübt, ist Ärger. Nun ist es aber nicht so, dass er deswegen traurig wäre und mit seinem Schicksal haderte. Nein, im Gegenteil, er ist sehr glücklich mit seinem Dasein als Untoter.
Fast jeden Abend geht Igor in seine Lieblingskneipe, den „Rebstock“, und betrinkt sich dort mit allerlei Flüssigem, das Alkohol enthält. Viele von euch werden nun sagen, dass Vampire doch nur Blut trinken, doch da muss ich ganz energisch widersprechen. Zwar brauchen sie Blut zum Überleben, aber das schließt keineswegs aus, dass sie auch mal zwischendurch eine Fanta oder Diätlimo zu sich nehmen.
Natürlich trinkt auch Igor Blut, doch das viele Jagen und Töten ist ihm sehr lästig geworden, und so hat er sich damit auf Alte, Kranke und Betrunkene spezialisiert. Die strengen ihn nicht so an.
Ich möchte an dieser Stelle kurz auf Igors Vater zu sprechen kommen. Der ist ein angesehener Bankdirektor und würde alles tun, damit sein Sohn ebenfalls eine Karriere in diesem Gewerbe anstrebt. Aber obwohl doch allseits bekannt ist, dass die meisten Bankangestellten Blutsauger sind, hält Igor nicht viel von der Idee oder überhaupt von regelmäßiger Arbeit. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, und wenn gar nichts mehr hilft, kann er sich allemal auf seinen Vater verlassen, der ihn trotz all seiner Schwächen über alles liebt.
Jetzt stellen sicher ein paar Klugscheißer unter euch den Wahrheitsgehalt betreffend der Arbeitsstelle von Igors Vater infrage, stimmt’s? Sicherlich wundern sie sich, wie denn ein Vampir, der nachtaktiv ist, einen so guten Posten bei der Bank abstauben konnte, wo doch jedes Kindergartenkind weiß, dass Vampire im Sonnenlicht zu Asche zerfallen. Diesen Besserwissern sei gesagt, dass so ein Tagesjob eben doch möglich ist, und zwar wegen hoch komplizierter biochemischer Vorgänge im Körperinneren von Igors Vater. Um diese biochemischen Vorgänge für euch Neunmalkluge leicht verständlich zu Papier zu bringen, würde ich ungefähr 300 Seiten benötigen, und da ich Igors Geschichte auf exakt 210 Seiten konzipiert habe, versteht ihr sicher, wenn ich darauf verzichte. Nur so viel: Glaubt es oder fahrt zur Hölle. Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder Vollidiot alles, was er nicht begreift, gleich infrage stellt? Habt ihr euch denn schon mal gefragt, warum ein Vampir im Sonnenlicht zu Asche zerfällt? Wolltet ihr da auch die genauen Vorgänge erklärt bekommen, die dazu führen, dass der Vampir eine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor eine Million benötigt? Nein, das glaubt man natürlich einfach so, aber wenn es bei einem einzigen Scheißvampir mal anders läuft, gibt es einen Riesenaufstand. Könnte ja auch ein Gendefekt sein. Ich hab mal von einem gehört, der dazu führte, dass aus einem Werwolf ein Wowolf wurde.
Also, tut mir leid, ich bin ein bisschen abgeschweift, aber so was macht mich einfach rasend. Kommen wir zurück zu Igor.
Es war kurz nach 22:00 Uhr, als Igor seine Stammkneipe, den Rebstock, betrat. Er bestellte sich ein Bier und einen Korn, fischte ein paar Münzen aus seiner schwarzen Jeans und warf sie in den Spielautomaten, der im Raucherbereich aufgestellt war. Er setzte sich daneben. Aus seiner dunklen Lederjacke holte er eine Packung Zigaretten und steckte sich eine an. Er schaute sich um. An diesem Abend hatten nicht sehr viele Gäste den Weg hierher gefunden, lediglich zwei alte Kerle saßen an der Bar, nippten an ihrem Hefeweizen und schwiegen sich an.
Theresa trat zu ihm und stellte ihm seine Getränke auf den Tisch. „Na, Archie, wieder nüchtern?“ Sie lächelte und entblößte dabei ihre gelben Zahnreihen.
„Ja, leider, aber ich bin dabei, diesen Fehler zu korrigieren.“ Igor prostete ihr zu und trank einen großen Schluck. Dann stellte er das Bier ab und rülpste lauthals in Richtung Theke. Die zwei Alten zuckten zusammen und warfen ihm böse Blicke zu. Igor grinste zurück und schickte einen zweiten Rülpser auf die Reise zur Bar.
Er zog seine Jacke aus und legte sie über den Stuhl. Ein blaues T-Shirt mit einem zähnefletschenden Werwolf darauf bedeckte seinen schmächtigen Oberkörper. Darunter war in großen, roten Lettern American Werewolf geschrieben. Igor liebte Filme und kannte sich dementsprechend gut aus. Nachdem er beide Gläser geleert hatte, winkte er Theresa her, um noch mal dasselbe zu bestellen. Wieder brachte sie ihm einen Korn und ein Bier, und wieder kippte er einen großen Schluck, um die alten Säcke an der Bar geräuschvoll anzurülpsen. Dieser Vorgang wiederholte sich im Laufe des Abends noch einige Male.
Nachdem er noch ein paar Münzen in den Automaten geschmissen und wider Erwarten nichts gewonnen hatte, ging er zur Toilette, um seine gut gefüllte Blase zu leeren. Ein Gefühl der Erleichterung überkam ihn, während er die Klobrille, den gefliesten Boden und seine schwarzen Stiefel mit braungelbem Urin besprenkelte. Er ging zum Waschbecken und blickte in den Spiegel. Die Tür ging auf und einer der alten Kerle torkelte hinter ihm vorbei. Der Alte war so mit sich selbst beschäftigt, dass er gar nicht merkte, dass Igor am Waschbecken stand, geschweige denn, dass er gar kein Spiegelbild hatte.
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