Wenn etwas passieren würde, darüber war sich Wiegand im Klaren, dann würde es mit ihm selbst und dem Sprungverlauf zusammenhängen oder mit der Qualität des Luftsacks, nicht mit Seifert, der seinem Ruf, ein Perfektionist zu sein, erneut bestätigt hatte. Die Genauigkeit, mit der Seifert vorgegangen war, wie er den Sprung gedanklich vorweggenommen und das Risiko verringert hatte, davon fühlte sich Wiegand stark beeindruckt.
»Die Sicherheit stelle ich natürlich über den Effekt«, hatte Seifert gestern zu Beginn der letzten Probenarbeit gesagt. »Ich bin dafür verantwortlich, dass nichts passiert, würde mich schuldig fühlen, wenn jemand deswegen verunglückt, weil ich nicht gut genug gearbeitet habe. Könnte es wohl nur schwer ertragen. So präzise wie möglich zu arbeiten, das ist mein Ethos. Das einzige, das ich habe. Also, wenn du keinen Schnitzer machst, dann wirst du mitten auf dem Luftsack aufkommen. Eine punktgenaue und butterweiche Landung, so viel steht fest«, hatte er ihm versichert und zum Beweis mit dem Zeigefinger auf eine dick unterstrichene Gleichung auf einem seiner großformatigen Arbeitspapiere getippt, die auf dem Eldorado-Rasen lagen und mit Zahlen, Zeichen und Skizzen übersät waren, die geistige Basis für sein jetzt beginnendes Körper-Kunststück.
Ein Doppelsalto aus 55 Metern Höhe mit anschließendem Hecht ist ein erstklassiger Kunstsprung. Für Wiegand bestand in den vergangenen Tagen kein Zweifel darüber, wie er seinen Sprung einzuschätzen hatte. Er zählte nicht zu seinen Filmsprüngen, die oft auch Stürze darstellten, war keiner dieser gewagten Körpereinsätze, die in irgendeine Geschichte eingebaut waren, sondern er war ein ganz auf ihn selbst bezogener Kunstsprung vor Publikum. Ihm würde damit eine sportliche Spitzenleistung gelingen. Es würde ein körperliches Kunststück sein. Sicherlich, es war kein Supersprung, und er war nicht der Einzige, der dazu fähig war, so zu springen, aber es gab wiederum nur wenige, die ihm das hätten nachmachen können. Mit seinem Sprung würde er bestimmt Aufsehen erregen. Er würde auf diese Weise besser ins Geschäft kommen. Sein Sprung war auch seine Idee. Vermutlich hatte noch niemand vor ihm so etwas gezeigt. Weder hatte er davon erfahren, noch ließ es sich herausfinden. Für 5000 Euro musste er schon Außergewöhnliches bieten. Ein einfacher Hechtsprung oder ein Doppelsalto aus nur 20 Metern Höhe wäre zu wenig gewesen. Erst die Verbindung von Bewegungsablauf und Fallhöhe machten seinen Sprung zu dem, was er auch sein sollte, nämlich eine Vergnügungspark-Attraktion. Sein Sprung könnte der Höhepunkt der Jubiläumsveranstaltung zum zehnjährigen Bestehen von Eldorado sein.
Wenn er ihn mit den anderen angekündigten Attraktionen verglich, schien ihm das gut möglich. Ein sensationeller Salto mortale. Kein anderer würde so weit vom Boden entfernt ein Körper-Kunststück ausführen, und kein anderer würde von der Gravitationskraft der Erde derart spektakulär angezogen werden wie er. Auf jeden Fall konnte er sich mit seinem Sprung sehen lassen.
Es standen noch auf dem Programm: ein Wettkampf zwischen Original-Rodeo-Reitern aus Texas um den eigens dafür gestifteten Eldorado-Pokal; ein mit Wiegand flüchtig bekannter Motorradartist aus Augsburg, der auf seiner Maschine einen Riesensatz über aufgereihte Autos hinweg durch einen Feuerreifen wagen wollte; ein dusseliger Gedächtnis-Akrobat aus Basel, der die Bibel auswendig gelernt hatte; ein Berliner Dompteur, der mit seinen Raubkatzen spielen würde; eine Kunstschützin aus Dublin, die zielsicher Gewehr und Armbrust gebrauchen und ihre Schussleistungen mit einer Art Wilhelm-Tell-Nummer krönen würde; eine Western-Show voll wohlbekannter, aktionsreicher Handlungen; eine Lido-Show, aufgeführt von Original-Pariser Nachtklubtänzerinnen, die mit ihren ausgesucht schönen Körpern dem deutschen Normalverbraucher in einem gesitteten Rahmen prickelnde Unterhaltung bieten würden; ein vom Moskauer Staatszirkus ausgeliehenes Akrobatenkollektiv, das vor allem wegen seiner Trapeznummern zur Spitzenklasse zählte; ein Wiener Zauberkünstler mit verblüffend großer Trickkiste, der sogar sich selbst halbieren oder schrumpfen lassen konnte. Aber nur er würde als Körpervirtuose etwas Atemberaubendes zeigen, bei dem ein Höchstmaß an Körperbeherrschung und Sicherheit überlebenswichtig ist.
Ob das Publikum mehr von ihm oder von anderen beeindruckt sein würde, war für Wiegand im Grunde genommen unwichtig. Was hatte er schon mit Vergnügungspark-Besuchern zu schaffen? Sie würden bloß für kurze Zeit als sensationslüsterne Randfiguren einen Zuschauerplatz in seinem Leben einnehmen und dann spurlos daraus verschwinden. Nicht um Fremde nervkitzelnd zu unterhalten, würde er springen, sondern nur um 5000 Euro zu kassieren und Eigenwerbung zu betreiben. Das war die Hauptsache. Nichts anderes.
Der Vergnügungspark hatte für ihn nur als Kurzzeit-Arbeitsplatz einen Wert. Nach seinem Auftritt würde er ihn nicht wieder aufsuchen, es sei denn wegen eines neuen Engagements. Er konnte diesem in der Publikumsgunst seit 10 Jahren ganz oben stehenden Eldorado nichts abgewinnen.
Ein sich über mehrere Hektar erstreckender alberner Mischmasch, der hauptsächlich auf Gaudi getrimmt war, diejenigen als Zielgruppe anlockend, die genügend Einfalt mitbrachten, um sich hier gut amüsieren zu können. Diese Freizeitfirma bot eine für ihn unbrauchbare Ware an, wirkte langweilig und kitschig. Warum sollte er in ein mit schalen Überraschungseffekten vollgestopftes Spukschloss aus Pappmaché gehen, warum in Pseudo-Wikingerbooten mitrudern, was konnten ihm schon läppische Achterbahn-Loopings geben, was interessierten ihn brüllende und Rauch speiende Kunststoffungeheuer, was reizten ihn zahme Revuen, warum sollte er puppenstubenähnliche Folterkammern besichtigen, was hatte er von künstlichen, familienfreundlichen Wildwasserfahrten, warum sollte er an verschnörkelten Altstadtkulissen aus Kunststoff vorbeischlendern?
Das Jubiläumsprogramm stand für ihn auf einem anderen Blatt. Bis auf jenen närrischen Gedächtniskünstler aus Basel, der die Bibel auswendig gelernt hatte, kreuz und quer herunterleiern konnte, schätzte Wiegand alle anderen, die mit ihm die Glanzlichter des Tages setzen sollten als Unterhaltungskünstler ein, die ein beachtliches Können verkörperten. Kollegen, gewissermaßen. Klasseleistungen würden sie zeigen, virtuose Kunststücke, Sehenswertes. Eine Ausnahmeveranstaltung, die auch international bestehen könnte und mit dem Normalbetrieb von Eldorado wenig gemeinsam hatte.
Als Wiegand vorgestern während einer Probenpause in einem der Eldorado-Lokale vor einer Tasse Kaffee saß, fiel sein Blick auf ein großes Wiener Schnitzel, das über den Teller eines Familienvaters lappte. Die Panade macht's, dachte er. Sieht deswegen nach mehr aus. Weniger Fleisch als Panade. Wie kann man nur so etwas essen. Scheint ihm aber zu schmecken. Menü zum Sonderpreis. Ist eher Körperverletzung als Nahrung. Wie alles, was hier auf der Speisekarte steht. Angewidert blickte er weg. Das Wiener Schnitzel erschien ihm passend zum Vergnügungspark: viel Panade und viel Pappmaché. Aber das störte ihn nicht weiter. Hauptsache, er konnte hier auftreten. Panade und Pappmaché ließen sich für ihn leicht auf andere Bereiche übertragen. Panade und Pappmaché allerorten. Wenn man genauer hinsieht. Wie viel davon vor allem im Film- und Fernsehgeschäft gebraucht wurde, das hatte er schon zur Genüge erfahren. Sein Sprung jedenfalls gehörte nicht dazu. Der war durch und durch echt, unverfälscht, genau das, wonach er auch aussah. Ein Anflug von Stolz streifte ihn. Er brauchte keine Panade, kein Pappmaché. Sein Körper reichte. Ein Instrument, das er gut beherrschte. In der Tat, mit seinem Sprung würde ihm eine ehrliche und beachtenswerte Leistung gelingen. Er holte das Röhrchen mit den Vitamintabletten aus seiner Jackentasche, fingerte eine heraus und ließ die nach Zitrone schmeckende Tablette in seinem Mund zergehen.
Читать дальше