Achim Albrecht
Der Engelmacher
Thriller
1. Auflage August 2012
©2012 OCM GmbH, Dortmund
Handlungen und Personen dieses Romans sind frei erfunden.
Gestaltung, Satz und Herstellung:
OCM GmbH, Dortmund
Verlag:
OCM GmbH, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-942672-13-9
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‚Die Rache ist mein; ich will vergelten. Zu seiner Zeit soll ihr Fuß gleiten; denn die Zeit ihres Unglücks ist nahe, und was über sie kommen soll, eilt herzu.‘
5. Mose 32:35
Die Verfassung der Stadt passte zu dem alten Mann. Sie hatten sich aneinander gewöhnt und zu einem gemeinsamen Rhythmus gefunden. Es war nicht leicht gewesen. Mit zunehmendem Alter wird man störrischer und beharrt auf den eingefahrenen Gleisen. Gewohnheiten geben Sicherheit. Das gilt für Städte und für alte Männer in gleicher Weise.
Jetzt schmiegte sich die Stadt an den nächtlichen Spaziergänger heran. Die einsetzende Dunkelheit machte es ihr leicht. Die länger werdenden Schatten wischten über die Unzulänglichkeiten des rissigen Gesichtes der Stadt und bald würden sie eine Decke aus kühler Schwärze über die Unkrautnester und die kahlen Hinterhöfe gelegt haben. Die Stadt hatte bessere Zeiten gesehen. Das Gleiche galt für den Mann.
Als er vor einigen Tagen ankam, konsultierte er seine Aufzeichnungen und prägte sich jedes Detail ein. Das tat er immer. Seit wie vielen Jahren konnte er selbst nicht mehr sagen. Sorgfalt und Vorsicht waren zu seiner zweiten Natur geworden. „Hast macht das Leben zu einer verderblichen Ware“, hatte ein Lehrer einmal zu ihm gesagt, als er sich als Junge auf dem Schulhof beim Herumtollen das Schienbein an einer Eisenstange prellte. Eine bleiche, gezackte Narbe unterhalb des Knies erinnerte den alten Mann an den Schmerz, der unter dem gleichgültigen Blick des Lehrers ins Unermessliche zu wachsen schien. Immer, wenn er in seinem Kastenwagen unterwegs war und die zur Routine gewordenen Anweisungen seiner Checkliste durchging, fuhr er mit dem rechten Zeigefinger über die Narbe und frischte die Erinnerung auf: „Hast macht das Leben zu einer verderblichen Ware“.
Andere mochten auf ihr Improvisationstalent, ihre Kräfte und ihren Elan setzen. Der alte Mann setzte auf Kontinuität, Sorgfalt und Erfahrung. Er konnte es sich nicht erlauben, seinen Broterwerb für einen Moment der Unachtsamkeit aufs Spiel zu setzen. Nicht in seinem fortgeschrittenen Alter. Nicht in seinem Beruf und nicht bei seiner mühsam erworbenen Reputation.
Die Jungen hielten nichts von seinem stoischen Planen. Sie vertrauten auf ihren Instinkt und ihre Kreativität. Sie lebten mit Adrenalin und Aggression – und sie lebten gut. Er wusste von ihnen. Natürlich hatte er sie nie zu Gesicht bekommen. Das war die Grundregel seines Berufs. Man blieb unsichtbar.
Der Wind hatte aufgefrischt. Die abschüssige Straße würde bald in einen spärlich bebauten Vorort abbiegen. Der alte Mann ging wie alte Männer gehen. Er war rüstig, aber man sah ihm seine Jahre an. Sein Schritt wirkte tastend, als ob er die Vorwärtsbewegung für einen Moment aussetzen würde, bevor er den Fuß aufsetzte. Das steife und vorsichtige Gehen war ein Wegbegleiter älterer Menschen. Der körperliche Verfall befiel zuerst die Gelenke und raubte ihnen ihre Biegsamkeit. Dann kam alles andere.
Der Mann konnte sich darum keine Gedanken machen. Er hatte Dinge zu tun. Dinge, die nach der Wegbiegung auf ihn warteten. Er hatte sich darauf vorbereitet. Seine Hüfte ließ ihn heute in Ruhe. Die Luftfeuchtigkeit musste niedrig liegen. Er war dankbar dafür. Das Alter lehrt einen, dankbar für Kleinigkeiten zu sein.
Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben. Wenn er beruflich unterwegs war, verzichtete er auf den Gehstock. Er tat es nicht aus Eitelkeit. Wäre er eitel gewesen, hätte er vielleicht auch auf die Brille verzichtet. Der Gehstock wäre ihm mehr hinderlich als nützlich gewesen. Außerdem hatte er andere Hilfsmittel. Hilfsmittel, die mit ihm durch dick und dünn gegangen war. Hilfsmittel, deren Gebrauch ihm in Fleisch und Blut übergegangen war. Dinge, die in Manteltaschen Platz hatten und ihm Zuversicht gaben.
Er schritt schneller aus. Sein Schatten streifte an einer Hauswand mit einer hochnäsigen Fensterfront vorbei. Die Gardinen hatten die Außenwelt ausgesperrt. So liebte es der Alte. Sein Atem ging regelmäßig. Er war noch immer gut in Form. Erstaunlich gut, wenn es darauf ankam. Heute kam es darauf an.
Er sah auf die Uhr, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. In exakt zwölf Sekunden würden die Straßenlampen mit einer milchig weißen Aura dem schwindenden Tag die Herrschaft streitig machen. In Gedanken zählte er die Sekunden herunter. Autoverkehr tröpfelte an ihm vorbei und verlor sich hinter der Straßenbiegung. Der alte Mann wusste, was er zu Gesicht bekäme, wenn er den Schuhladen zu seiner Rechten passierte und dem welligen Trottoir folgte. Schlagartig würde sich die Szenerie ändern. Das bucklige Altstadtviertel würde sich zu einem weiten Areal ausweiten, dessen Bebauung schon seit Jahren beschlossen war. Die Stadt hatte in der Zwischenzeit einen notdürftig bepflanzten Park angelegt, der mit seinem kümmerlichen Bewuchs öde und zerzaust wirkte. Eine knallbunte Wippe langweilte sich neben einer ebenso grellen Rutsche. Die Kinder schenkten ihnen nur selten Beachtung. Im Hintergrund würde der Güterbahnhof sein übliches dissonantes Konzert aus metallischen Klängen zum Besten geben. Weit rechts, geduckt, mit einem breiten, weithin beleuchteten Maul der Supermarkt, der mit Plakatwänden und Leuchtschriften seine Sonderangebote anpries.
Der Alte hielt den Blick auf den Supermarkt gerichtet. Er ging langsam weiter. Wieder sah er auf die Uhr. Die einzige Variable in seiner Kalkulation war die Frau. Wie alle Frauen war sie keine Konstante. Frauen waren niemals Konstanten. Sie waren von der Natur dazu ausersehen, niemals berechenbar zu sein. Der alte Mann wusste, dass sein Blick auf die Uhr ein Akt der Hilflosigkeit und eine Bitte um Erlösung war. Manchmal half ein solcher Blick.
In seinen Notizen hatte er vermerkt, dass die Frau festen Gewohnheiten folgte. Übersetzt in die Alltagssprache hieß die Bemerkung, dass er an bestimmten Orten zu kalkulierbaren Zeiten auf die Frau treffen würde. Der Supermarkt war einer dieser Orte. Der Zeitrahmen von 18.40 Uhr bis 18.50 Uhr war eine der Zeiten. Seinen Beobachtungen zufolge war es die beste aller Zeiten am besten aller Orte.
Dem Mann halfen die wenigen Vorteile, die das Alter mit sich bringt: Erfahrung und Geduld. Erstere, weil ein über die Jahre geübter Instinkt eine schlafwandlerische Untrüglichkeit entwickelte und Letztere, weil die Unzulänglichkeiten des Alters eine zunehmende öffentliche Demütigung bedeuteten, die nur mit einer resignierenden Langmut zu ertragen war.
Der Mann konnte es sich erlauben, offen nach der Frau Ausschau zu halten. Er würde neben den anderen Passanten nicht auffallen. Niemand achtete auf einen hageren Alten, der sich linkisch seinen Weg zu einem Supermarktparkplatz bahnte. Es war die Zeit der größten Geschäftigkeit, die Zeit voluminöser Einkaufstüten und quengelnder Kinder, die Zeit, in der man mit sich selbst genug zu tun hatte. Selbst ein aufmerksamer Beobachter hätte ihn mit nicht mehr als der Beschreibung „rüstiger Rentner“ versehen.
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