Die Besucher
Achim Albrecht
1. Auflage April 2019
© 2019 OCM GmbH, Dortmund
Gestaltung, Satz und Herstellung:OCM Verlag, Dortmund
Verlag:OCM Verlag, Dortmund, www.ocm-verlag.de
ISBN 978-3-942672-66-5
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Angefangen hatte es mit der Frau im blauen Mantel.
Im Rückblick erschien ihm seine amateurhafte Vorgehensweise fast lächerlich. Wie verängstigte Vögel hüpften seine Augen von Detail zu Detail, saugten sich für Augenblicke an dem Saum des Mantels fest und stießen sich unzufrieden davon ab, um die Umgebung zu kontrollieren. Gesichter flogen vorbei und Gesprächsfetzen verwehten. Der Platz mit dem Marktbrunnen verengte sich zu einer Gasse, vor der der Autoverkehr nach links wich, weil rotbäuchige Schilder mit weißen Balken die Einfahrt verweigerten.
Pflastersteine wetteiferten darum, es den modischen Absätzen der krampfhaft um Haltung bemühten Damenschuhe schwer zu machen und bildeten eine strenge Grenze zu der willfährigen Kolonie schmuckloser grauer Platten, die sich den Tritten der Fußgänger ohne Widerstand ergaben.
Er war sich nicht sicher, was seine besondere Aufmerksamkeit erregt hatte, glaubte aber, dass es das Blau des Mantels war, der sich um die Waden der Frau bauschte. Selbst an Tagen, die er in selbstzufriedener Gelassenheit verbrachte, war blau nicht seine Farbe. Am ehesten zu ertragen gewesen wäre ein gedecktes Dunkelblau, das bescheiden und seriös daherkam. Für Kinder mochte auch ein unschuldiges Hellblau angemessen sein, das ihre Unvoreingenommenheit kundtat. Was sich allerdings vor ihm seinen Weg bahnte, war ein stechendes Stahlblau, kompromisslos und Übelkeit erregend, weder fröhlich und unbekümmert wie ein flatterhaftes Gelb noch beruhigend und matronenhaft wie ein Tannengrün.
Er scherte im Strom der Flanierenden nach rechts aus, was ihn einige Anstrengung kostete, da er sich unbewusst gerne nach links hielt. In einem Kneipengespräch hatte ihn ein flüchtiger Bekannter darüber belehrt, dass wissenschaftliche Experimente den Beweis erbracht hatten, dass die Anhänger von Verschwörungstheorien immer einen Hang zur Abweichung nach links verspürten, während nüchterne Charaktere auch mit verbundenen Augen eine gerade Linie zu halten vermochten. Seltsamerweise hatte ihn die Bemerkung stärker getroffen, als er sich zugestehen wollte und so stellte er sich bei jeder Gelegenheit auf die Probe.
Er redete sich ein, dass seine inzwischen beträchtlichen Kenntnisse über Beschattungstechniken danach verlangten, von Zeit zu Zeit Stellungswechsel vorzunehmen, um nicht die Aufmerksamkeit des Objektes zu erregen. Er beschleunigte seinen Schritt und klopfte mit der Hand zum wiederholten Mal auf seine Jackentasche. Sein wichtigstes Werkzeug für diesen Tag war an seinem Platz und mit einem Griff sicher zu erreichen. Wenn es soweit war, musste es schnell gehen. Es musste natürlich aussehen und durfte keinen Verdacht erregen.
Die Frau im blauen Mantel fädelte mit kurzen energischen Schritten in eine Gruppe müßig tratschender Hausfrauen mit prall gefüllten Einkaufstaschen ein und drehte sich ruckartig um. Seine Augen hafteten gerade an den unmodischen Keilabsätzen ihrer Schuhe, die den militärisch präzisen Schwenk mit vollzogen. Die richtige Reaktion wäre gewesen, mit gesenktem Kopf im gleichen Rhythmus wie bisher an dem Objekt vorbeizuschlendern, ohne es eines Blickes zu würdigen oder aber die fortgeschrittene Version zu bemühen und den Blick über den Scheitel ihres dunklen Haares zu heben und angelegentlich suchend in die Ferne zu schauen, während man den Gesamtausdruck ihres Gesichtes auf sich wirken ließ, um zu entschlüsseln, welche Motivation hinter ihrem plötzlichen Manöver stand.
Seine Gedanken beschäftigten sich noch mit den formlosen Waden unter den cremefarbenen Strümpfen, die beim Gehen nicht die Teilung in separate Muskelbündel aufwiesen, aus denen man auf die sportliche Betätigung des Objektes schließen konnte. Er blieb mit der gleichen unnatürlichen Heftigkeit stehen wie die Verfolgte und verkrampfte sich augenblicklich, als ihm klar wurde, dass er sich mit der Bewegungslosigkeit entblößte und preisgab, bar jeder natürlichen Deckung. Im Widerstreit mit seinem Fluchtinstinkt schlenkerte er hilflos mit den Armen und brachte schließlich einen hilflosen Vertuschungsversuch zustande, der darin bestand, dass er umständlich nach einem Taschentusch kramte und sich ohne ersichtlichen Grund die Oberlippe abwischte, während er den Blick von dem Objekt abwandte.
Ihm war nicht entgangen, dass ihn die Frau forschend musterte, ihn taxierte und wieder losließ, um ihre hellbraune Handtasche zu durchsuchen, die sie beim Gehen unnatürlich weit von ihrem Körper weg hielt, als habe sie der Tasche die Zusage gemacht, dass diese keinesfalls mit dem Mantel in Berührung kommen müsse.
Tief Luft holend wandte er sich um und ging einige unschlüssige Schritte, bis er ein Schaufenster fand, das es ihm erlaubte, das Spiegelbild des Objektes in Augenschein zu nehmen. Die Frau fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und steckte sie unangezündet zwischen ihre Lippen. Ihr Gesicht war ein bleiches Oval ohne besondere Ausdruckskraft bis auf die entschlossen zusammengepressten Lippen, die die schlanke Zigarette malträtierten. Dem Verfolger fiel auf, dass er die Frau nur mit Mühe identifizieren könnte, wenn sie sich des Mantels entledigte, dessen marktschreierische Präsenz wie ein Leuchtturm hervorragte.
Seine Versäumnisse wogen nicht weniger schwer, wenn man zu seinen Gunsten in Betracht zog, dass er das Objekt schon eine geraume Zeit verfolgt und niemals aus den Augen verloren hatte. Es war ihm auch gelungen, die Handtasche als hochpreisige Ware zu identifizieren, die sich in ihrer gediegenen Langweiligkeit an das graue Kostüm anpasste, das der monströse Mantel bei jedem Schritt für kurze Augenblicke freigab.
Sie hatten gemeinsam Boutiquen besucht und Kaufhäuser durchwandert, wobei er stets eine respektvolle Entfernung einhielt. Nur ein einziges Mal war er weniger zaghaft gewesen und hatte die Distanz zwischen ihnen rasch verringert, um noch die Duftwolke zu erreichen, die sie aus einem umständlich ausgewählten Probefläschchen in Richtung ihres Halses gesprüht hatte, bevor sie zwischen den Werbewänden ihren Zickzacklauf fortsetzte. Jede Vorsicht außer Acht lassend hatte er unter dem missbilligenden Blick einer maskenhaft geschminkten Verkäuferin genießerisch die sich verflüchtigenden Reste von Nelke und Johannisbeere erschnuppert. Die Frau hatte ihn nicht enttäuscht. Sie hatte weder zu einer unpassenden sportlichen Note gegriffen, die einen jugendlich sehnigen Typus vorzuspiegeln versuchte, noch zu einer blumig unbeschwerten oder gar betäubend vulgären Mischung Zuflucht gesucht, wie es Frauen taten, die im Verblühen begriffen waren und sich eine Ausdünstung schufen, die vorspiegelte, dass auch sie noch vom Leben zum Tanz aufgefordert würden.
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