Sie glaubte nicht, dass sich der Schreiber tief greifende Gedanken über ihre Gefühlswelt und Befindlichkeiten gemacht hatte. Er schien von einem Mittelungsbedürfnis beseelt zu sein, das sich mit ihren Informationsinteressen deckte, denn er fabulierte in lockerem Ton und ohne Angst, die Angeschriebene zu langweilen oder abzustoßen. Ernster wurde sein Stil, als er erneut auf die Motivation zu sprechen kam, die ihn dazu gebracht hatte, sie anzuschreiben.
Schnörkellos verzichtete er auf die üblichen Beteuerungen, dass er kein verschrobener Sonderling sei, der den Kontakt mit einer Gefangenen als besonderen Kick erlebte. Er wies auch kein Helfersyndrom auf, das viele Gutmenschen auszeichnete, die sich gesellschaftlich engagieren wollten und sich heute für die Rettung der Flussauen, morgen für den in seiner Existenz bedrohten Feldhamster und später für die Resozialisierung von Strafgefangenen einsetzten. Solche Menschen waren edel und sie wollten, dass dieses Prädikat öffentlich bekannt wurde, um sich in aller Bescheidenheit damit schmücken zu können.
Mark dagegen war erfrischend anders. Er erwähnte die Dokumentation des Fernsehsenders und schilderte die Schlüsselszene, die ihn dazu gebracht hatte, ihr zu glauben. Die Einstellung war eine Halbtotale, die die Frau in der Wäscherei zeigte. Ihre Hände hantierten ungeschützt mit einer Lauge und schweren Bottichen. Ihr Gesicht war friedlich und die Schatten des Verlustes ihrer Existenz umgaben sie wie Gespenster der Vergangenheit. In den feuchten Dunst hinein kommentierte ein Sprecher die Geschehnisse in dem Altenheim in kirchlicher Trägerschaft, das die bürgerliche Gesellschaft erschauern ließ und die Sensationsgier vieler befriedigte.
Wochenlang zeigten die Nachrichtensender die gleiche Verhaftungsszene. Zwei Polizisten und mehrere wichtig aussehende Männer in Zivil führten die Altenpflegerin in Handschellen ab. Ihr Kopf war gesenkt, aber man konnte erahnen, dass sie eine Schönheit war. Aus ihren leicht erhobenen Händen, die noch schwanenweiß und jungfräulich wirkten, machten die Gazetten die bittende Geste einer Verzweifelten, obwohl sie nur nach einer Zigarette gefragt hatte und dabei war, diese entgegenzunehmen. So wurde sie in ständiger Wiederholung bis zu ihrem Prozess in einer Endlosschleife derselben Aufnahmen verhaftet. Ihre Hände hoben sich immer aufs Neue der Zigarette entgegen. Die Verhaftete wurde dieser Sequenz bald überdrüssig, die sie zu einer öffentlichen Person und dem ‚Todesengel‘ machte, bildlich reduziert auf zwei gefesselte Hände, die sich wie Komplizen der Presse in das Bild schoben, das für sich in Anspruch nahm, die ganze Wahrheit zu erzählen. In der Haft würde sie die vorwitzigen und gedankenlosen Hände mit harter Arbeit und Nichtachtung strafen, denn sie warf ihnen Verrat und Illoyalität vor.
Acht Heimbewohner waren während der Schichten des Todesengels ums Leben gekommen. Es waren allesamt Frauen, schwere Pflegefälle mit leeren Augen und verwirrten Gesichtern. Man schätzte, dass die Pflegerin Dutzende alter Menschen umgebracht haben könnte und nahm umfangreiche Exhumierungen vor. Eine Überprüfung ergab, dass erhöhte Mengen an Insulinen, Neuroleptika und Tranquillantien aus den Beständen des Altenheims angefordert wurden, wenn der Todesengel Schicht hatte, ohne dass medizinische Notwendigkeiten vorlagen. Eilig herbeizitierte Experten überschlugen sich in Wertungen und Kalkulationen, stellten für die Kameras tödlich wirkende Medikamentencocktails zusammen und schwelgten in der Motivsuche, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass man es mit einem Monster in Engelsgestalt zu tun habe.
Der Todesengel stritt nicht ab, die Demenzkranken, die Hinfälligen und Bettlägerigen besonders intensiv betreut zu haben. Gefasst schilderte sie ihre Zuneigung zu ihren Schutzbefohlenen, die umso mehr zunahm als sie hilfloser und schwächer wurden.
Was blieb ihr anderes übrig als die körperlich agile Alzheimer Patientin mit Gummischläuchen an ihr Bett zu fesseln, die beständig auf der Wanderschaft war, medizinische Geräte mit der immer gleichen Bemerkung „Geht nicht, geht nicht!“, ausschaltete, auf Notknöpfe drückte und sich in fremde Flure verlief, bevor sie mit einem markerschütternden „Geht nicht, geht nicht!“, schluchzend in ihr Zimmer abgeführt wurde.
Wer konnte eine bessere Lösung für die Gehbehinderten und durch Dekubitus Geschädigten finden als das Anlegen von Windeln, in die sie sich erleichtern konnten, so oft sie wollten, bis die richtige Zeit gekommen war, die besudelten Beweise ihrer Inkontinenz in Reichweite moderner und heller Bäder von den nörglerischen Alten zu reißen und fahlgelbe, rissige Haut und wund gescheuerte Stellen mit Schwämmen und Tüchern zu reinigen. Man hatte die Handgriffe perfektioniert, packte Gelenke, drehte Extremitäten und ignorierte das undankbare Gejammer der infantilen Alten, die zappelten und strampelten wie ungehorsame Kinder.
Wie konnte man individueller auf unbotmäßiges und aufsässiges Verhalten reagieren, als die Schnabeltasse mit Tee außerhalb der Reichweite der dehydrierten Rollstuhlfahrerin zu stellen, die mit zeternder, durchdringender Stimme zur Unzeit forderte, dass man ihr Kissen aufschüttele, das sie als Rückenstütze benutzte, dabei aber die Agilität besaß, jeden erreichbaren Gegenstand mit ihrem Kot zu beschmieren, um ihren Standpunkt zu untermauern.
Wie anders war ein geregelter Ablauf möglich, als die besonders Aufsässigen mit Medikamenten ruhig zu stellen und sie von geifernden, nach Menschenmüll stinkenden Ungeheuern zu verzückt sabbernden fügsamen Alten zu machen, denen man nicht gram war und die man frisierte, wusch und fütterte, wie es der Plan vorsah.
Was war dagegen einzuwenden, den Widerstand der fetten Cholerikerin mit der Magensonde durch das Anlegen von Bauchgurten zu brechen, die mit hervorquellenden Augen und Wahnsinn in der überschnappenden Stimme ihre Obszönitäten herausschrie und erst aufhörte, ihr Geschlecht zu stimulieren, wenn man ihr einige Ohrfeigen zur Ernüchterung verabreichte.
Der Todesengel war viel zu klug, um sich in diesem Sinne zu äußern. Eine zu große Dosis Wahrheit macht unsympathisch und nutzte niemandem. Besser war es, die in der Hauptverhandlung gezeigte Haltung zu perfektionieren und trotz offenkundiger depressiver Kraftlosigkeit die volle Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen.
All das kam in dem einen von ihr selbst geäußerten Satz in der Filmsequenz aus der Waschküche der Haftanstalt zum Ausdruck. Ihre Haltung straffte sich und ihr entschlossener Mund schloss einen Pakt mit ihren Augen, die ihre nachdenkliche Sanftheit verloren hatten. Ihre Hände verbarg sie auf dem Rücken. „Ich weiß jetzt, dass meine Art der Hilfeleistung gegen das Gesetz war, aber von einem moralischen Standpunkt aus würde ich es noch einmal tun.“ Der Todesengel trat zur Seite und wurde von der Kamera verfolgt. Noch einmal nahm die Frau Stellung. Dieses Mal schoss eine gerötete Hand nach vorne und stach mit dem Zeigefinger zu. „Wer tatenlos zusieht, wie Menschen unrettbar leiden, handelt verwerflich.“ Die Frau machte eine effektvolle Pause. „Mein Leben ist verpfuscht – wenn es aber den Sinn gehabt haben sollte, dass über die Erlösung als Akt der Barmherzigkeit ernsthaft nachgedacht wird, bin ich gerne bereit, den Preis zu zahlen.“ Der Mund schloss sich und wirkte zufrieden. Die Augen nahmen den gewohnten sanften Glanz an und über das Gesicht breitete sich Melancholie.
Genau diese Szene war es, die den Briefpartner von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt hatte. Wie oft hatte er die Erfahrung gemacht, dass die mobilen Pflegekräfte, die er für seine Mutter engagierte, überfordert waren. Es hatten sich die Vorkommnisse gehäuft, bei denen fremde Menschen mit einem verlegenen Lächeln oder die Polizei mit einer markigen Ermahnung zu mehr Sorgfalt seine hohlwangige, gebeugte Mutter von einem ihrer Ausflüge zurückbrachten und sie ihn zitternd in die Arme schloss wie einen verloren geglaubten Schatz, um kurz darauf mit Argwohn in der Stimme zu fragen, ob er auch in diesem Haus wohne. Er ahnte wie ein Mensch an einer Aufgabe, die sich täglich vor ihm auftürmte wie ein unüberwindliches Hindernis, zerbrechen konnte.
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