Die Realität änderte nichts an dem Hochgefühl des Stiftes. Neu eingekleidet und auf Wirkung gebürstet, lebte es sein Leben als Residenz. Die Zeichnungen des Bauträgers bewiesen, dass es zu Recht stolz war auf seine neue Identität. Man hatte die Zeichnungen von einem Künstler kolorieren lassen. Sie waren frisch und optimistisch. Der Park schien dichter und einladender zu sein, als man ihn in Erinnerung hatte. Er grenzte mit seinem Saum direkt an das gläserne Eingangsportal der Residenz. Holz, Chrom und Glas gaben sich ein Stelldichein und verwandelten den Neubau in glänzende Fluchten. Prächtig ausgeleuchtete Wohnungen mit erlesenen Möbeln lockten. Man plante Shops, Sportmöglichkeiten und ein Casino. Kein Kasino mit „K“, sondern ein solches mit „C“. Zerstreuung auf höchster Ebene. Bestnoten bis zum letzten Buchstaben. Gestyltes Alter und dienstbare Geister in einem verborgen liegenden Versorgungs- und Pflegetrakt. Dafür suchte man Investoren. Man nannte die Klientel Investoren.
Viktor war einer von ihnen. Viktor war nicht beunruhigt, weil er seine Kräfte schwinden sah. Er ließ sich auch nicht von der Fassade der Einrichtung blenden. Er war als nüchterner Pragmatiker in schwierigen Zeiten aufgewachsen und würde als solcher von der Bühne abtreten. Er hatte seinen Weg gewählt. Wo andere sich bemühten, tiefe Fußstapfen zu hinterlassen, die nur schwer zu verwischen waren, bemühte sich Viktor darum, seine Abdrücke zu tilgen, so gut er es vermochte. Er war gut darin, sich am Rand des Geschehens aufzuhalten und keinerlei Aufmerksamkeit zu erregen. Deshalb war er erfolgreich in seinem Beruf und seine Arbeitsethik färbte auf sein Privatleben ab.
Natürlich hatte sich Viktor verschiedene Objekte angeschaut. Wenn man ihre vollmundigen Versprechen und aufwendigen Fassaden auf das Wesentliche reduzierte, waren sie alle Sterbehilfeeinrichtungen mit geschulten Lächelgesichtern und einem medizinischen Apparat, der reibungslos funktionierte. Je nach Einrichtung erkaufte man sich Obdach und Nahrung, man erkaufte sich professionelle Herzlichkeit und geschultes Mitgefühl. Man konnte kaufen, was immer man sich leisten konnte, bis man sich seine individuelle Illusion von Familie zusammengestellt hatte.
Viktor wusste all das. Das Stift mit seiner neu gewonnenen Selbsteinschätzung konnte ihn nicht täuschen. Er machte sich keine Illusionen. Sein Beruf war es, andere von ihren Illusionen zu befreien.
Die Seniorenresidenz am Stadtpark sollte es sein, weil Hedwig es wollte. Viktor konnte Hedwig keinen Wunsch abschlagen. Sie hatte noch immer das Gemüt eines kleinen Mädchens, dessen Zöpfe dünner geworden und ergraut waren. Sie trug noch immer den gleichen Flechtkorb bei sich, der mit den Wunden des Alltags übersät war und sich von seinem Griff zu lösen drohte. Viktor hatte mehrfach versucht, Hedwig einen anderen Korb schmackhaft zu machen. Er hatte ihr geduldig erklärt, dass man verdiente Veteranen ruhen lassen musste, wenn ihre Zeit gekommen war. Er hatte ihr Körbe präsentiert, die raffiniert ausgestattet und mit erlesener Handwerkskunst gefertigt waren. Hedwig hatte genickt und die Körbe beiseite gestellt. Ihre braunen Augen und die aufgeworfenen Lippen sprachen ihre eigene Sprache.
Als Hedwig mehrere Dutzend Körbe besaß und die Ansammlung lästig zu werden begann, kapitulierte Viktor. Er kapitulierte immer vor Hedwig. Hedwig wusste das. Im entscheidenden Moment setzte sie ihr strahlendes Lächeln auf und sah Viktor mit einem schwärmerischen Gesichtsausdruck an. Er war ihr Held, ihr Spieleerfinder, ihr Schutzengel. Er war gut zu ihr und sie schenkte ihm ihre ganze Zuneigung. Sie gab sich damit zufrieden, dass Viktor in ihrer Nähe war. Sie verstand, warum er sie nicht zu sich holen konnte. Er hatte einen fordernden Beruf. Für die Zeiten ohne Viktor hatte Hedwig ihre Kaninchen. Sie waren ein guter Zeitvertreib.
Viktor dachte an das Jahr, als er der Kommission gegenübersaß. Es war ihm lästig, sich für einen Platz in der Seniorenresidenz bewerben zu müssen, aber so waren die Regeln. Das Alter brachte eine Fülle von Regelwerken mit sich. Das selbstbestimmte Leben verkroch sich allmählich in wenige Winkel. Der Rest wurde in Verhaltensvorschriften verpackt, wie sie nur für Kinder und Alte galten.
Eine grauhaarige Dame mit strengem Blick und schmalen Lippen, die selbst nur einen Gänseschritt vom Alter entfernt war, fragte Viktor, was ihn nach seiner Ansicht qualifiziere, in der Residenz wohnen zu dürfen. Der wie ein Theologe wirkende Mittvierziger trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch. Er studierte seine Papiere und fragte Viktor nach dessen sozialem Engagement. Er machte den Eindruck, dass er jeden Bewerber nach dem sozialen Engagement fragte. Der Leiter der Residenz, ein löwenmähniger Mensch mit einer dröhnend jovialen Stimme wies darauf hin, dass das Haus bei allen Freiheiten, die man den Bewohnern zu gewähren bereit sei, Regeln habe. Er dehnte die Vokale, als wolle er das letzte Quäntchen Bedeutungsgehalt aus ihnen herausquetschen.
Viktor hatte sich vorbereitet. Er war immer vorbereitet. Sorgfältig hatte er die Dokumente für die Bonitätsprüfung zusammengestellt. Er hatte sich Antworten zu seinem Gesundheitszustand, seiner Motivation und seinen Vorstellungen von der Zukunft zurechtgelegt. Die Antworten waren wohlfeil und auf Wirkung poliert. Sie entsprachen nicht der vollen Wahrheit. Nichts, was man von Viktor zu wissen glaubte, entsprach der vollen Wahrheit.
Die größte Hürde war die Unterbringung von Hedwig. Als die ersten Prospekte von der Residenz eintrafen, klatschte Hedwig in die Hände. Das tat sie, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte. War sie sich unsicher, fächelte sie mit geöffneten Händen. Lehnte sie etwas ab, schob sie es entrüstet, mit angeekelter Miene und geballten Fäusten von sich weg. Hedwig war eine charakterfeste Persönlichkeit.
Viktor hatte einen großen Stapel Werbematerial vor sich liegen, als Hedwig ihre Entscheidung traf. Er beobachtete sie genau. Die Tatsache, dass sie nicht sprach und nie ohne die Begleitung eines Kaninchens gesehen wurde, verführte dazu, sie als zurückgeblieben einzuschätzen. Nichts war unzutreffender als dieser Eindruck. Hedwig war eine alte Frau geworden. Sie war mit Würde gealtert und konnte wie jeder ältere Mensch Hilfestellungen und Rücksichtnahme gebrauchen. Ansonsten aber wohnte in dem gedrungenen Körper der alten Frau ein scharfer Verstand, der sich lediglich weigerte, die Schranke von der Kindheit zur Erwachsenenwelt zu durchschreiten. Der traumatische Vorfall in jenen Kriegstagen hatte diese Entwicklung ausgelöst und Viktor verstand.
„Sie hat im Krieg Schreckliches durchgemacht und Heilung in der Kapsel ihrer bis dahin unbeschwerten Kindheit gefunden“, zitierte Viktor das ärztliche Bulletin, das den Allgemeinzustand von Hedwig charakterisierte. Nie hatte jemand danach gefragt, was der Frau im Kindesalter widerfahren sein mochte. Man konnte es sich vorstellen. Der Krieg ist ein grausamer Geselle, der auch vor Kinderseelen nicht haltmacht. Die verrohte Soldateska und das kleine Mädchen. Unvorstellbar. Unaussprechlich. Viktor nickte zu den betroffenen Mienen und beließ es dabei.
Dennoch bedauerte die Kommission. Man könne Hedwig nicht in die Residenz aufnehmen. Sie sei zu betreuungsintensiv. Auch könne man die Anwesenheit eines Kaninchens aus hygienischen Gründen auf keinen Fall dulden. Man müsse sich im Fall von Hedwig überlegen, ob eine Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung nicht sehr viel angemessener sei. Eine geballte Ansammlung Fachkompetenz bemühte sich um die freundliche Überredungskraft, die nötig sein würde, um den störrischen Alten, der sich als Viktor vorgestellt hatte, zu überzeugen.
Viktor war auf diesen Ausgang des Gesprächs gefasst. Er war vorbereitet, so wie er immer vorbereitet war. Hedwig hatte bei der Durchsicht der Unterlagen in die Hände geklatscht. Sie hatte es nicht unbedacht getan. Hedwig wollte eine Wohnung in der Residenz und sie sollte sie bekommen.
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