»Ich weiß das ja«, murmelte Weichert. »Aber es ist etwas anderes, wenn man …« Er brach ab und sah in den Garten.
»… wenn man es mit eigenen Augen sieht?«, vollendete Andresen den Satz. »Ja, das stimmt. Bei meiner ersten verwesten Leiche bin ich sogar in Ohnmacht gefallen. Sie halten sich also ganz gut.« Er lächelte Weichert aufmunternd zu.
»Sie?! Sie sind in Ohnmacht gefallen?«
Andresens Kollege konnte es offenbar nicht fassen, dass ein Zwei-Meter-Hüne wie er beim Anblick einer Leiche einmal umgekippt war wie ein Sack Kartoffeln.
Andresen kratzte sich verlegen an der Nase. »Ich bin nicht stolz darauf, also konzentrieren wir uns lieber wieder auf das Wesentliche.« Er wandte sich an den Arzt. »Hast du schon die Todesursache?«
Schwarzhaupt schüttelte den Kopf. »Er ist ganz schön gefoltert worden. Ihm wurden nicht nur büschelweise Haare ausgerissen, am Hals fand ich eine Verbrennung, die offenbar von einer Zigarette stammt. Faustschläge gab es auch, davon zeugen mehrere Hämatome an den Wangenknochen, dann die Verbrühungen am Kopf und im Gesicht, die Messerstiche …« Der Arzt strich nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger seinen dunklen Schnauzbart glatt. »Vielleicht waren es die Stichverletzungen, es könnte allerdings auch ein Herzanfall aufgrund der Misshandlungen gewesen sein, der schlussendlich zum Tod geführt hat. So ad hoc kann ich dir das nicht sagen. Da musst du schon meinen Bericht abwarten.«
»Gab es sonst noch etwas Interessantes?«
»Nun, er hat sich eingenässt«, antwortete der Arzt.
»Der arme Kerl muss eine Scheißangst gehabt haben. Aber ob dir diese Info was bringt …«
»Danke trotzdem.« Andresen erhob sich und nickte Weichert zu. »Ich schlage vor, wir unterhalten uns als Erstes mit der Nachbarin, die ihn gefunden hat.«
»Können wir außen herum gehen?«, bat Weichert mit einem bangen Blick Richtung Wohnzimmer.
»Sicher.« Andresen lächelte. »Doch vorher fragen Sie die Kollegen nach Namen und Adresse der Zeugin.«
»Mir bleibt auch nichts erspart.« Weichert seufzte, versteckte erneut seine Nase hinter dem Stoff seines Blazers und betrat mit der Miene eines Märtyrers zum zweiten Mal das Wohnzimmer.
Knapp fünf Minuten später klingelten die Kommissare am Nachbarhaus rechts vom Tatort. Der melodische Klingelton war kaum verhallt, als die Tür sich auch schon öffnete.
Da hat wohl jemand bereits ungeduldig gewartet, dachte Andresen leicht amüsiert.
Die Frau, die im Türrahmen erschien, war etwa Mitte Sechzig. Sie trug eine geblümte Bluse und einen dunkelblauen Faltenrock. Hinter ihren dicken Brillengläsern sahen die hellbraunen Au-gen größer aus, als sie vermutlich waren.
»Ja, bitte?«
»Frau Lieselotte Schlüter?«
»Die bin ich.« Frau Schlüter hob den Kopf und sah ihre Besucher abwartend an. Beide hielten ihre Ausweise hoch.
»Kriminaloberkommissar Carsten Andresen. Das ist mein Kollege, Kriminalkommissar Lutz Weichert. Wir sind von der Mordkommission Flensburg und hätten ein paar Fragen an Sie.«
Lieselotte Schlüter nickte und öffnete die Tür weiter. »Ich hab Sie erwartet. Na, denn kommen Sie man rein.«
Sie folgten ihr in ein helles, biederes Wohnzimmer, im Landhausstil eingerichtet und perfekt aufgeräumt. Kein Staubkörnchen war zu sehen. Die dezent geblümten Sessel standen auf zierlichen Füßen, Couch- und Beistelltisch schmückten gehäkelte Deckchen und auf allen Ablageflächen verbreitete Porzellan-Nippes eine Aura der Tugend und Anständigkeit.
Frau Schlüter wies einladend auf das Sofa. »Setzen Sie sich. Darf ich Ihnen was anbieten? Einen Kaffee oder lieber einen Schnaps?«
Andresen schüttelte den Kopf. »Danke, nein. Wir sind ja noch im Dienst.«
»Also, ich brauch jetzt ’n Schluck«, verkündete sie. »So was erlebt man ja nicht alle Tage.«
Andresen setzte sich vorsichtig auf die Kante der zierlichen Couch, damit der exakte Knick in dem Kissen hinter ihm nicht verrutschte. Selbst in der guten Stube seiner Oma war es nicht so ordentlich gewesen wie hier. Es kam ihm vor, als entweihe er ein Museum.
Auch Weichert fühlte sich sichtlich unwohl, als er sich in einem der schmalen Sessel niederließ.
Lieselotte Schlüter steuerte die Kirschbaum-Schrankwand an und öffnete eine Klappe, die sich nach unten öffnete und eine kleine, verspiegelte Bar zutage förderte. Dort standen mehrere angebrochene Flaschen; Andresen erkannte ein paar Cognacsorten, zwei verschiedene Flaschen Bourbon und einige Liköre. Mit sicherem Griff nahm Frau Schlüter einen Cognac zur Hand und goss sich einen großzügigen Schluck ein.
Mit dem zierlichen Kristallglas in der Hand setzte sie sich auf einen der beiden Sessel. Dann kippte sie den Cognac hinunter, stellte das Glas mit einem zufriedenen Seufzer auf einem Filzuntersetzer ab und lehnte sich zurück.
Andresen beugte sich vor. »Jetzt erzählen Sie doch mal, Frau Schlüter. Am besten von Anfang an.«
Sie verschränkte die Hände locker im Schoß, als begänne nun Lieselottes Märchenstunde.
Andresen vermutete, dass ihr Leben ansonsten eher eintönig verlief und sie es genoss, im Mittelpunkt von etwas so Aufregendem wie einem Mordfall zu stehen. Das gab gewiss Gesprächsstoff für Monate.
»Wissen Sie, ich kenn Herrn Jensen ja schon, seit er und seine Frau hergezogen sind. 2008 war das, glaub ich. Im März oder April. Oder im Mai? Na, egal, jedenfalls war es im Frühling. Sie – also Frau Jensen – ist ja vor ein oder zwei Jahren verstorben, Krebs, wissen Sie? Eine nette Frau war das, ’n büschen ruhig vielleicht. Jedenfalls, seitdem sah man nicht mehr viel von ihm. Er war zwar bannig oft in seinem Garten, aber besonders redselig war er nicht gerade.«
Vielleicht kam er auch nur nicht zu Wort, dachte Andresen und nutzte eine Atempause der Zeugin für eine Frage. »Was genau ist denn heute passiert?« Aus den Augenwinkeln beobachtete er, dass Weichert sich eifrig Notizen machte.
Lieselotte Schlüter erhob sich schwerfällig, holte die Cognacflasche und schenkte sich ungeniert noch einmal ein. Ihre anfängliche vornehme Zurückhaltung hatte sie überraschend schnell abgelegt. Sie wartete mit der Antwort, bis der Schnaps ihre Kehle hinunter gelaufen war und räusperte sich dann.
»Neulich ist mir aufgefallen, dass ich Herrn Jensen schon länger nicht gesehen hab. Gerade im Frühling ist das sehr ungewöhnlich, wissen Sie? Er ist eigentlich jeden Tag eine Weile draußen. Denn ist mir noch aufgefallen, dass der Garten mit Unkraut überwuchert ist. Ja, und da fing ich an, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Sonst ist der nämlich immer pikobello, wissen Sie? Kein anderer Nachbar kümmerte sich so gründlich um seinen Garten wie Herr Jensen. Bei ihm gedieh auch einfach alles.«
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