Kriminaloberkommissar Carsten Andresen und sein Kollege, Kriminalkommissar Lutz Weichert, stiegen aus Andresens altem Mercedes und sahen sich um. Hier, auf der Westlichen Höhe, wie dieser Teil Flensburg genannt wurde, hatten sie nicht oft zu tun.
Die Gegend war ruhig, fast gediegen. Es gab mehr Bäume als Autos, und bis auf einige Radfahrer und eine ältere Dame, die ein vermutlich reinrassiges Schoßhündchen spazieren führte, war niemand zu sehen.
Andresen legte den Kopf in den Nacken und sah skeptisch zum Himmel. Von Osten her kamen immer mehr Wolken heran.
Hoffentlich blieb es trocken. Nicht nur, dass er Regen nicht leiden konnte – seine Scheibenwischerblätter mussten dringend ausgewechselt werden. Bei einem Platzregen würde er praktisch blind fahren.
Nebeneinander gingen sie auf das Haus zu.
Die gepflasterte Auffahrt war mit Einsatzwagen der Polizei und der Spurensicherung zugeparkt.
Andresen und Weichert bahnten sich ihren Weg um die Fahrzeuge herum, wobei Andresens Blick auf dem ungewohnt stoppeligen Kinn von Lutz Weichert hängenblieb. Schon bei ihrem Zusammentreffen war ihm aufgefallen, dass irgendetwas anders war an seinem sonst überaus gepflegten Kollegen. Nun wusste er, was es war.
»Ist Ihr Rasierapparat kaputt?«, fragte er.
»Wieso?«
»Sie wirken heute weniger adrett als üblich«, antwortete Andresen und strich sich mit der Hand über sein eigenes stoppeliges Kinn.
»Ich habe mich absichtlich nicht rasiert«, erklärte Weichert. »So ein kurzer Bart, wie Sie ihn haben, ist doch ganz praktisch. Man muss sich nicht mehr täglich rasieren und kann morgens länger schlafen. Außerdem ist Bart wieder in.«
»Verstehe.« Andresen nickte und wandte den Kopf ab, um sein Grinsen zu verbergen. Dem spärlichen Bartwuchs seines Kollegen nach zu urteilen würde es mindestens eine Woche dauern, bevor er einen Drei-Tage-Bart vorweisen konnte.
Die Haustür stand offen und sie traten in den dämmrigen Flur. Der Geruch von Tod und Verwesung empfing sie.
Andresen zog eine angewiderte Grimasse und Weichert ließ seine untere Gesichtshälfte hinter dem Revers seines laubfroschgrünen Blazers verschwinden. »Himmel, das ist ja grauenvoll!«, stöhnte er durch den Stoff.
Andresen atmete durch den Mund ein und aus, während er sich umsah. Ein enger, dunkler Flur mit Schlüsselkästchen an der Wand und einer Garderobe in Eiche rustikal. Selbst Wände und Decke waren mit dunklem Holz getäfelt.
Nur durch die geöffnete Haustür drang ein Lichtstrahl, der die düstere Atmosphäre allerdings eher betonte als abmilderte. Aus dem Raum rechts von ihnen kamen Stimmen.
Als sie das Wohnzimmer betraten, sahen sie auf den ersten Blick nur zwei uniformierte Polizeibeamte, die dicht an der Tür stehengeblieben waren.
Als Andresen über ihre Schultern spähte, erkannte er die Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen.
»Dürfen wir mal durch?«, fragte er. Die Beamten gaben ihm und Weichert den Weg frei.
Im Fernsehsessel saß das Opfer. Es war gefesselt. Über dem Mund befand sich ein großer Klebestreifen. Der ältere Mann war bestialisch zugerichtet worden. Kopfhaut und Gesicht waren mit Brandblasen übersät, dunkelrot und zum Teil aufgeplatzt.
Andresen hörte Weichert hinter sich leise würgen und hatte selbst Schwierigkeiten, sein Frühstück bei sich zu behalten. Dennoch zwang er sich, genauer hinzuschauen.
Der Oberkörper des Mannes wies zahlreiche Stichwunden auf. Getrocknetes Blut zierte den hellgrauen Pullover. Fliegen summten um die Leiche herum und ließen sich immer wieder auf ihr nieder.
Ein Kollege trat auf sie zu. Auch er war blass um die Nase. »Der Mann heißt Heribert Jensen«, berichtete er. »Achtundsechzig Jahre alt, Pensionär, verwitwet.«
»Kinder?«
»Fotos von Kindern oder Enkeln sind nirgends zu sehen, aber wir werden das noch überprüfen.«
»Wer hat ihn gefunden?«
»Eine Nachbarin. Sie hält sich in ihrem Haus zur Verfügung.«
Der Gerichtsmediziner Dr. Karl-Heinz Schwarzhaupt kam auf sie zu und zog sich dabei seine Ein-weg-Handschuhe aus.
»Moin, Carsten.« Seine Stimme klang dumpf, da ein Mundschutz seine untere Gesichtshälfte bedeckte. Sie reichten sich die Hände.
»Hallo, Kalle. Können wir draußen reden?«
Dass Dr. Schwarzhaupt schmunzeln musste, erkannte man nur an der Vertiefung der Lachfältchen um seine blauen Augen.
Er nahm seinen Mundschutz ab. »Gern. Wie du weißt, bin ich einiges gewohnt, aber selbst mir wird hier drin langsam schlecht.«
Sie traten durch die schmale Terrassentür nach draußen. Weichert folgte ihnen und atmete tief durch. »Das tut gut«, seufzte er.
Andresen grinste.
In dem kleinen Garten gab es links eine Rasenfläche samt Apfelbaum. Auf dem Grün lagen vereinzelte weiße Blütenblätter wie große Schneeflocken.
Das Gras stand hoch, Klee, Moos und Löwenzahn hatten sich darauf ausgebreitet. Auf der rechten Seite des Gartens waren Blumen- und Gemüsebeete, in denen das Unkraut wucherte wie Pickel auf einem Teenager. Ein mit Steinplatten belegter Weg trennte die Hälften.
Schmetterlinge und Bienen schwirrten um die Pflanzen, die Luft roch würzig. Fröhliches Vogelgezwitscher verstärkte den idyllischen Eindruck noch. Verglichen mit dem Inneren des Hauses war es hier direkt paradiesisch.
Andresen und Schwarzhaupt setzten sich auf zwei der vier Plastikgartenstühle, die auf der kleinen Terrasse standen. Weichert wischte etwas Schmutz von der Sitzfläche, bevor er sich ebenfalls niederließ.
»Es ist nur eine Vermutung«, wandte sich Andresen an den Mediziner, »doch ich gehe davon aus, dass der arme Mann länger als ein paar Stunden tot ist.«
»Mindestens eine Woche«, nickte Schwarzhaupt und schlug die Beine übereinander. »Die Totenstarre hat sich bereits vollständig gelöst, die Augäpfel sind eingesunken, die Maden haben sich noch nicht verpuppt. All das deutet auf eine Zeitspanne von sieben bis zehn Tagen hin. Abgesehen davon war der Briefkasten ziemlich voll und in der Küche haben deine Kollegen eine Tageszeitung gefunden. Sie ist vom zweiten Mai. Letztem Montag.«
»Zweiter Mai«, wiederholte Weichert und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Das wären zehn Tage. Ganz schön schaurig.«
Dr. Schwarzhaupt sah ihn ein wenig mitleidig an.
»Es passiert leider immer häufiger, dass allein stehende Menschen, die verstorben sind, erst spät gefunden werden«, sagte er. »Manchmal vergehen sogar Monate.«
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