Sie seufzte und schüttelte betrübt den Kopf.
Andresen nickte, wurde aber langsam ungeduldig.
Schließlich waren sie nicht hier, um sich einen Vortrag über die botanischen Fähigkeiten des Opfers anzuhören.
»Erzählen Sie bitte weiter, Frau Schlüter«, bat er.
»Wie? Ach so, ja. Also, heute Mittag kam ich mit unserem Postboten ins Gespräch. Herrn Eckert. Er fragte, ob der Herr Jensen verreist sei, weil sein Briefkasten so voll ist. Ich sagte, dass Herr Jensen eigentlich nie verreist. Das wüsste ich, wissen Sie, weil ich einen Schlüssel habe und er mich dann doch bestimmt bitten würde, mich um die Post und die Pflanzen zu kümmern. Das hat er aber noch nie gemacht.«
»Und warum haben Sie einen Schlüssel, wenn Herr Jensen nie verreist?«, wollte Andresen wissen.
Sie blinzelte hinter den dicken Brillengläsern.
»Es ist ein paar Mal vorgekommen, dass er sich ausgesperrt oder seinen Schlüssel verloren hat. Wissen Sie, Herr Jensen ist ein kluger Mann – war ein kluger Mann«, verbesserte sie sich augenblicklich, »aber auch manchmal ein wenig, naja, schusselig. Und vergesslich. So ein Schlüsseldienst ist teuer, da hat er sich wohl gedacht, es ist besser, wenn er jemanden bittet, einen Ersatzschlüssel aufzubewahren. Tja, und das war eben ich.«
Sie sah so stolz aus, als hätte man sie gebeten, für das Amt der Bundeskanzlerin zu kandidieren.
»Was geschah dann?«
»Nun, wir – der Herr Eckert und ich – haben uns überlegt, was mit Herrn Jensen sein könnte. Ob er sich verletzt hat oder so, wissen Sie? Es wäre ja möglich, dass er Hilfe braucht. Also haben wir beschlossen, nach ihm zu sehen.«
Sie stockte. Ihr in die Ferne gerichteter Blick zeugte davon, dass sie das grässliche Bild wieder vor Augen hatte, das sich ihr und dem Briefträger geboten hatte.
In Gedanken versunken goss sie sich einen weiteren Cognac ein, vermutlich um das Bild aus ihrem Kopf zu spülen. Sekunden später war das Glas leer. Andresen machte eine auffordernde Handbewegung und die ältere Dame fuhr fort.
»Wo war ich? Oh, ich weiß schon. Der Herr Eckert und ich gingen zusammen nach nebenan. Und als wir die Tür öffneten, merkten wir gleich, dass da was nicht stimmt. Wissen Sie, es roch so … so …«
Vergeblich suchte sie nach einem passenden Wort und sah ihre Besucher hilfesuchend an.
Andresen nickte verstehend und Frau Schlüter schenkte ihm ein kleines, dankbares Lächeln.
»Ich hab wirklich noch nie etwas so Grauenvolles gesehen«, versicherte sie. »Wissen Sie, hätte Herr Eckert mich nicht festgehalten, ich wär glatt aus den Pantinen gekippt.«
»Hatte Herr Jensen in der letzten Zeit Besuch? Von Freunden oder Familienangehörigen?«, erkundigte sich Andresen.
Lieselotte Schlüter schüttelte den Kopf. »Nein, nicht das ich wüsste. Ich habe noch nie erlebt, dass er Besuch bekommen hat.«
»Was ist mit Kindern und Enkeln?«
Sie hob ratlos die Schultern. »Er hat nie von Familie gesprochen. Ich glaube, er und seine Frau waren kinderlos.«
»Hatte er Feinde? Vielleicht unter den Nachbarn?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich kann es mir nicht vorstellen. Herr Jensen war nicht sehr kontaktfreudig, blieb lieber für sich. Er ging höchstens mal einkaufen oder zum Friedhof.«
»Haben Sie vor etwa zehn Tagen jemanden in der Gegend gesehen? Einen Fremden? Oder ein Auto, das Sie nicht kannten? Ist Ihnen sonst etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
Frau Schlüter überlegte. »Nein, ich kann mich nicht erinnern. Was sagten Sie? Zehn Tage liegt er da schon? Oh, mein Gott, wie furchtbar!«
Sie machte eine bedeutungsschwere Pause, dann fügte sie nachdrücklich hinzu: »Wissen Sie, wenn Sie mich fragen, kann das nur ein völlig krankes Hirn getan haben.«
***
Jan wurde wach, als Yvonne die langen Beine aus dem Bett schwang, zum Fenster hinüberging und die schweren, dunkelbraunen Vorhänge zur Seite schob. Er blinzelte und sah zu ihr hinüber. Die blonden Locken waren wie jeden Morgen noch unordentlich vom Schlaf. Er liebte diesen Anblick. »Beweg dich nicht«, flüsterte er.
Sie drehte sich zu ihm um und lächelte.
»Du siehst aus wie ein Engel«, flüsterte er andächtig.
Ihre rechte Hand strich über die kleine, noch kaum sichtbare Wölbung in ihrer Körpermitte. »Ich hab noch nie von ’nem schwangeren Engel gehört.«
»Egal.« Jan winkte ab. »Dann bist du eben der erste.«
Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu, griff nach der Decke und zog sie mit einem Ruck weg. Sein empörtes »Hey!!« ignorierte sie.
»Steh auf, Schnucki. Wir haben ’ne Menge zu tun.«
»Was denn?« Jan zog die in verschiedenen Brauntönen gemusterte Decke vom Boden zurück ins Bett und breitete sie über sich aus. »Wir haben einen Termin beim Standesamt, die Location für die Party steht, die Gäste sind eingeladen. Essen, Getränke und Musik sind organisiert.« Gelassen verschränkte er die Arme hinter dem Kopf. »Alles ist erledigt.«
Sie musterte ihn mit erhobener Augenbraue. »Was ja nicht unbedingt dir zu verdanken ist, du Nappsülze.«
»Ich bin nun mal nicht besonders gut in solchen Dingen«, gab er zu und verzog unwillig das Gesicht. »Dafür habe ich mich um das Studio gekümmert.«
»Heute Vormittag macht das jedenfalls Andy«, sagte sie. »Du wirst einkaufen. Zettel ist fertig, liegt in der Küche. Außerdem holste deinen Anzug ab.«
»Und was machst du?«
Yvonne verdrehte die Augen. »Ich hab ’nen Termin beim Friseur, wir proben die Frisur für Samstag. Das hab ich dir gestern schon verklickert. Außerdem will ich zur Maniküre und mein Kleid muss ich auch abholen.«
»Was für ein Aufwand, bloß damit zwei Leute ›Ja‹ sagen«, brummte Jan und zog sich die Decke über den Kopf.
»Willste etwa in letzter Sekunde kneifen?«, fragte seine Verlobte drohend.
Er zog die Decke ein Stückchen von seinem Kopf herunter, so dass seine Augen und die Nasenspitze hervorlugten. »Nee, will ich nicht. Aber als ich dir einen Antrag gemacht habe, ist mir nicht klar gewesen, dass Heiraten so anstrengend ist.«
»Verglichen mit der Ehe ist es der reinste Sonntagsspaziergang, Schnucki, wart’s ab.«
Ehe er etwas erwidern konnte, nahm sie Anlauf und sprang aufs Bett, direkt auf ihn drauf.
Dieser unerwartete Frontalangriff presste Jan die Luft aus den Lungen, so dass er ein ersticktes Keuchen von sich gab. »Ich glaube, unter diesen Umständen überlege ich mir das Ganze nochmal«, stöhnte er.
Yvonne lachte, beugte sich über ihn und gab ihm einen dicken Kuss.
Die Feier sollte in Yvonnes Fitness-Studio statt-finden. Das kam günstiger und von den Räumlichkeiten her war es ideal, zumal das Studio im Erdgeschoss des Hauses lag, in dem Jan und Yvonne unter dem Dach wohnten.
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