Sie war der Meinung, sich wahrhaftig oft genug entschuldigt zu haben. Außerdem freute sie sich auf das Wiedersehen mit ihren Freunden. Auf keinen Fall würde sie sich das von Stephan vermiesen lassen.
Natürlich hatten auch die Kinder längst mitbekommen, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Marco wirkte bedrückt und verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer. Und Leonie hatte sie vor ein paar Tagen gefragt, warum Papa immer so schlechte Laune hatte.
»Ist er böse auf mich?«, hatte sie ängstlich gefragt.
In dieser Hinsicht konnte Kristina sie beruhigen.
»Nein, Schätzchen, er ist nicht böse auf dich, überhaupt nicht.«
»Aber was hat er denn dann?«
Kristina murmelte daraufhin etwas von Ärger bei der Arbeit, der dem Papa zu schaffen machte.
Ihrer Tochter zu erzählen, dass Stephan wütend auf seine Frau war, hatte sie einfach nicht fertiggebracht.
Leonie hätte wissen wollen, warum das so war. Und wie, bitte schön, sollte sie einer Siebenjährigen erklären, dass der Papa verletzt war, weil die Mama ihn betrogen hatte?
Dem Rattenschwanz an Fragen, der dieser Aussage folgen würde, war sie schlicht nicht gewachsen. Abgesehen davon konnte und wollte sie ihre Kinder nicht damit belasten. Sie könnten ohnehin nicht nachvollziehen, warum das hatte geschehen können.
Sie verstand es ja selbst nicht mehr, wie sollten Marco und Leonie es dann begreifen?
Sie seufzte und widmete sich wieder den einfallsreichen Antworten ihrer Schüler.
Nachdem bereits einer den damaligen Reichspräsidenten in Peter von Hindenberg umgetauft hatte, behauptete ein anderer, der vorletzte Reichskanzler vor Hitler sei »von Pappe« gewesen.
Sollte tatsächlich Herr von Papen gemeint sein, oder war das nur eine moderne Charakterbezeichnung?
Während sie mit ihrem Rotstift Bemerkungen schrieb und Noten gab, schweiften ihre Gedanken wieder zu Stephan ab. Wo war er wohl hingegangen? Sie vermutete, dass er sich mit einem Freund oder Kollegen traf, doch genau wusste sie es nicht. Oder rächte er sich an ihr, indem er die Abende mit einer anderen Frau verbrachte?
Nein, das war unmöglich.
Nachdenklich sah Kristina aus dem Fenster in die Dämmerung. War es wirklich so undenkbar, dass ihr Mann sich von einer anderen Frau trösten ließ?
Stephan war zwar kein Womanizer-Typ mit seinem schütteren Haar und dem kleinen Bauchansatz, doch er konnte sehr charmant sein und hatte Humor. Es gab bestimmt einige Frauen, die ihn anziehend fanden.
Mitten in diese beunruhigenden Überlegungen hinein klingelte das Telefon, das direkt neben Kristina lag.
Sie fuhr erschrocken zusammen, wartete ein paar Herzschläge ab und griff dann nach dem Apparat.
Wer konnte das sein? War Stephan etwas zugestoßen? Vielleicht hatte er einen Unfall gehabt.
Geh ran, dann weißt du es, forderte sie sich stumm auf und drückte auf die entsprechende Taste. »Wilbert.«
»Hallo Krissi, ich bin es, Svenja.«
Erleichtert lehnte Kristina sich zurück. »Svenja! Wie geht es dir?«
»Sehr gut, danke. Stell dir vor, ich hatte heute ein Vorstellungsgespräch. Ich hoffe so sehr, dass ich den Job bekomme.«
»Das wäre ja super«, sagte Kristina angenehm überrascht.
»Es wäre perfekt«, schwärmte Svenja. »Eine kleine Kanzlei, nur eine Anwältin und ich. Ihr Partner kann nicht mehr praktizieren, also sucht sie einen Ersatz.«
Sie seufzte. »Das Einzige, das für mich spricht, ist, dass ich zeitnah einsteigen könnte und sehr früh davon erfahren habe, durch Marius, weißt du? Aber wenn es noch mehr Bewerber gibt, bin ich vermutlich schnell wieder aus dem Rennen.«
»Nun sieh mal nicht so schwarz. Es kommt doch auf mehr als nur Berufserfahrung an. Stimmte die Chemie zwischen euch?«
»Ja, ich denke schon. Ich fand sie sehr sympathisch, und ich glaube, sie mochte mich auch.«
»Na, siehst du. Dann stehen deine Chancen vermutlich besser, als du denkst.«
Svenja lachte. »Ich glaube, deshalb habe ich dich angerufen. Du hast so eine herrlich optimistische Art. Irgendwie muss ich gewusst haben, dass du mich aufbaust. Danke, Krissi.«
»Gern geschehen. Wie geht’s Marius?«
»Oh, eigentlich sehr gut, aber er arbeitet zu viel. Wenn er so weiter macht, sieht er bald so krank aus wie seine Patienten.«
»Dann wird ihm das Wochenende in Berlin bestimmt guttun.« Kristina klemmte das Telefon zwischen Ohr und Schulter und stapelte die Arbeiten ihrer Schüler aufeinander. Für heute hatte sie genügend hanebüchene Antworten gelesen.
»Richtig! Gut, dass du Berlin erwähnst«, sagte Svenja. »Eigentlich rufe ich ja genau deswegen an. Ich dachte mir, es ist doch idiotisch, wenn wir mit zwei Autos fahren. Wir könnten euch abholen und fahren dann gemeinsam die restliche Strecke.«
»Ist das nicht ein Umweg für euch?«
»Überhaupt nicht. Ich muss die Kinder vorher ohnehin zu meiner Schwiegermutter bringen – du weißt schon, Nikolais Mutter. Sie wohnt in Quickborn, das ist doch ganz dicht bei Hamburg. Sobald wir Julius und Jana bei ihr abgeliefert haben, fahren wir bei euch vorbei. Kein Problem.«
»Das klingt wirklich vernünftig«, stimmte Kristina erleichtert zu.
Die Fahrt nach Berlin würde zu viert sicherlich entspannter verlaufen. Sie hatte wenig Lust, vier Stunden lang abwechselnd mit Stephan zu streiten oder seinem eisigen Schweigen zu lauschen.
»Dann machen wir es so«, bestimmte Svenja zufrieden. »Sag mal, was schenken wir Jan und Yvonne eigentlich zur Hochzeit? Hast du schon eine Idee?«
»Die habe ich tatsächlich«, erwiderte Kristina. »Aber ob sie gut ist, weiß ich nicht.«
Mit wenigen Worten unterbreitete sie der Freundin ihren Vorschlag.
Svenja stimmte begeistert zu. »Das klingt super. Ich freue mich ja so auf euch alle. Das letzte Mal haben wir uns bei der Gerichtsverhandlung gesehen.«
Kristina schluckte, lehnte sich zurück und zupfte an ihrem Pony. Am Tag der Urteilsverkündung hatten Yvonne und Svenja erfahren, was zwischen Jan und ihr vorgefallen war.
»Wie läuft es denn zwischen dir und Stephan?«, wollte Svenja wissen, als hätte sie den gleichen Gedanken gehabt.
»Na ja, es geht so«, antwortete Kristina unbestimmt. »Mal besser, mal schlechter.«
»Ist er immer noch nicht darüber hinweg?«
»Ehrlich gesagt, er sähe es am liebsten, wenn ich Jan und Yvonne absage«, berichtete Kristina wahrheitsgemäß. »Ihm graut davor, Jan wiederzusehen. Ich habe ihm allerdings klargemacht, dass ich auf jeden Fall fahren werde. Also hat er beschlossen, mitzukommen. Damit er aufpassen kann, dass ich nicht wieder irgendeinen Unsinn mache.«
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