Es war ihr möglich, ihre Gedanken und Erinnerungen, die sie mir schilderte, bildlich an die Höhlenwände zu werfen.
An einem Nachmittag hatten wir nebeneinander auf dem Boden gesessen und sie hatte mir Stickmuster gezeigt, die zu ihren Lebzeiten in Mode gewesen waren und die ich nicht kannte, aber sogleich begeistert ausprobierte. Agatha war eine gute Stickerin, doch so elegant und fein wie meine Stiche sahen ihre nicht aus.
So bestickten wir gemeinsam ein weinrotes Tischtuch mit Blättern und Ranken und Agatha erzählte von ihrem Leben als Gattin des Fürsten von Ansphal.
Ich sah eine Illusion des aufgedunsenen Fürsten an den Wänden. Wie er arrogant und hochtrabend über einen Festplatz schritt und die Stufen zu einer Tribüne hochstampfte, um auf einem gepolsterten Sessel gleich neben seiner Gemahlin, der schönen Fürstin Agatha, Platz zu nehmen. Agatha trug ein himmelblaues Seidenkleid und einen durchsichtigen Schleier auf dem Haar, der von einem goldenen Reif gehalten wurde. Sie war überirdisch schön und tottraurig. Auf der Tribüne warteten die Adligen auf den Beginn des Pfingstturniers und die Wiese bevölkerten die Bürger und Bauern in freudiger Erwartung auf das Spektakel.
Die Ritter kamen auf den Platz geritten und stellten sich nacheinander dem Fürstenpaar vor. Einer von ihnen hielt den Helm unter dem Arm und sein dunkelrotes Haar zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Er war jung und hatte ein interessantes Gesicht, mit lebhaften hellen Augen und unzähligen Sommersprossen auf den Wangen und der Stirn.
Als die Blicke der jungen Fürstin und die des Ritters einander trafen, spürte ich regelrecht, wie der Funke übersprang und sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebten.
Der Ritter war Arno, ein jüngerer Sohn des Barons von Blausee, der niemals zu Reichtum kommen würde, es sei denn, er könnte eine reiche Erbin heiraten.
„Ich war vom ersten Moment Feuer und Flamme für ihn. In den Turnieren konnte ich seine Minnedame sein, aber ich wollte mehr. Ich wollte Arno voll und ganz.“
In Agathas Stimme schwang eine Leidenschaft, die ich ihr niemals zugetraut hätte. „Doch Arno war ein Ehrenmann, der sich an die Tugenden der Ritterschaft hielt. Obwohl auch er in Liebe zu mir entbrannt war, hätte er mich niemals berührt. Abgesehen davon hätte Wilfried uns beiden von der Kehle bis zum Rumpf aufgeschlitzt, wenn wir auch nur einen Kuss getauscht hätten.“
„Wie konnte Arno dann dein Gemahl werden? Du warst doch Ansphals Gattin …“, unterbrach ich sie gespannt.
Einen Moment herrschte Stille, bevor Agatha mich mit hartem Blick ansah: „Ich ermordete meinen Mann und der Weg war für uns frei.“
‚Natürlich‘, dachte ich eine Stunde später betäubt, als ich mich durch die Hecken oberhalb des Hanges kämpfte. ‚Niemand kommt unschuldig in den Ikenwald.‘
Ich hatte mir nur keine Gedanken darum gemacht, weshalb Agatha in die Verdammnis gekommen sein könnte. Sie wirkte so süß und unschuldig. Sie war elegant und freundlich und hatte mich nach Überwindung ihrer Ängste mit offenen Armen aufgenommen.
Sie war eine Mörderin. Sie hatte ihren alten, hässlichen und bösartigen Gatten kaltblütig ermordet, um einen schönen, mittellosen Ritter heiraten zu können. Diesem hatte Agatha niemals gestanden, dass sie den Tod ihres ersten Mannes verursacht hatte. Viel mehr hatte ich nicht erfahren. Ich war auch zu verwirrt und verstört über ihr Geständnis gewesen und hatte mich ziemlich bald von ihr verabschiedet.
Die Enttäuschung darüber, in der neugefundenen Freundin erneut eine weitere Verbrecherin des Ikenwaldes zu finden, hatte mich überwältigt.
Plötzlich drang ein Pfiff in mein Bewusstsein ein und dann ein zweiter. Ich blieb stehen und blickte mich um. Hinter einem Holunderbusch gewahrte ich ein gelbes Wams und eine helle Hand winkte mich zu sich.
„Vitus?“ Ich machte ein paar Schritte in seine Richtung. „Vitus!“
„Psst!“ Er legte den Finger an die Lippen.
„Ansphals Männer waren vor einer Weile an den Grenzen zum Südwald.“
Er griff nach meiner Hand und zog mich zum Dunst.
„Was hast du denn vor?“, flüsterte ich.
„Wir gehen zu den Lebenden. Hier ist es zurzeit zu unsicher für mich. Überall sind die Späher des Räuberhauptmanns auf der Suche nach mir und sogar Ansphals Männer scheint er eingespannt zu haben.“
„Das stimmt. Veith soll nach Ansphals Frau suchen und der Fürst nach dir.“
Ich konnte nicht weitersprechen, denn der Nebel schwappte über mich und drückte mich von allen Seiten zusammen als tauchte ich unter Wasser. Vitus dagegen war ruhig und führte mich ein Stück. Er blieb stehen und streckte meine Arme aus. Hinter mir stehend flüsterte er in mein rechtes Ohr:
„Stell dir vor, du besäßest ein Band, das in der Nacht leuchtet. Und nun spannst du dieses Band an einen Baum am Eingang des Nebels und führst es mit dir bis zum Ende der Nebelwand und dort spannst du es an einen Baum in der Welt der Lebenden.“
Er legte seine Finger an meine Wangen und drehte meinen Kopf ein wenig.
„Da sieh, das ist das Band, das ich gespannt habe.“
Durch den Nebel schien sich ein glühender blauer Faden zu winden, dem wir langsam folgten.
„Das ist der Faden der Ariadne.“
In Vitus‘ Stimme schwang ein Lachen. Sehen konnte ich ihn nicht.
„Was für ein Faden?“, fragte ich.
„Ähem …“, er räusperte sich, „sagen wir, das sind die Brotkrumen von Hänsel und Gretel.“
„Sind die nicht von den Vögeln aufgepickt worden und daraufhin haben sich die Kinder total verirrt?“
Verwirrt folgte ich dem Band.
Erneut ertönte Vitus‘ tiefes Lachen hinter mir.
„Bleiben wir also besser bei Ariadne. Sie war eine Königstochter, deren Liebster durch ein Labyrinth finden musste, um eine gefährliche Bestie zu besiegen und Ariadne gab ihm einen Knäuel goldener Wolle mit, das ihr Held am Eingang des Irrgartens befestigte und auf seinem Weg abrollte. Als er die Bestie überwunden hatte, folgte er dem abgerollten Goldfaden und fand seinen Weg zurück aus dem Labyrinth zu seiner Liebsten.“
Dieses Märchen über einen edlen Ritter und seine Prinzessin führte meine Gedanken erneut zu Agatha und ihrem Arno. Bestimmt verdrängte ich die beiden. Jetzt war es wichtig, mich auf den Weg in die Außenwelt zu konzentrieren.
Bevor ich zu Boden strauchelte, konnte Vitus mich halten. Gemeinsam kauerten wir auf dem mit Kiefernzapfen bedeckten Boden und starrten hinunter ins Dorf. Der Himmel war stark bewölkt und grau und erst in diesem Moment bemerkte ich die Regentropfen, die mir vom Haaransatz über das Gesicht perlten.
„Ist es Tag oder Nacht?“, fragte ich, als ich wieder ruhig atmen konnte. Die Erholung kam schneller, als bei unserem letzten Wiedergang und Vitus sah kaum erschöpft aus.
Vitus fixierte den Glockenturm und kniff die Augen zusammen. „Das Angelusläuten ist soeben verklungen.“
Angelus, der Engel des Herrn, wurde am frühen Morgen, am Mittag und am Abend geläutet. Also war die Abendzeit gerade angebrochen.
„Wie lange können wir bleiben?“, sehnsüchtig glitt mein Blick zu meinem Haus.
„Wir werden sehen. Ein paar Stunden. Wann erwartet der Räuberhauptmann dich zurück?“
Ich zuckte die Achseln. „Vor einer Stunde? Heute komme ich in jedem Fall zu spät, aber einerlei … Er ist zu sehr mit den Unruhen im Wald beschäftigt, als dass er sich mit mir befassen will.“
Ich ordnete meine Röcke und warf das nasse Haar nach hinten, bevor ich Vitus musterte. „Ich habe seit Tagen nach dir gesucht.“
„Wirklich?“ Er lächelte. „Nach der Geschichte auf der Koppel habe ich erwartet, dass du mich am liebsten mit einem Fußtritt in die Hölle befördern willst. Immerhin habe ich dich diesen Halunken überlassen, die dich zu deinem Kerkermeister zurückgebracht haben.“
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