„Wie sieht es aus, Mädchen?“
„Ich … ich weiß nicht. Ich habe niemals so viel Blut gesehen. Doch, … einmal …“ Ich dachte an mich selbst auf meinem Totenbett. „Bei einer Wöchnerin … und sie hat nicht überlebt.“
Helge strich mir über den Kopf. „Das ist Veith, der überlebt alles.“
„Aber er ist noch nie verletzt worden“, jammerte Luis und Tränen schwammen in seinen großen Augen.
„Ja, diesmal war er ein wenig unaufmerksam. Aber wir haben sie vertrieben, wie immer.“ Der alte Mann drückte den Jungen kurz.
„Allerdings“, Helge schien zu überlegen, wie er weitersprechen sollte, „Petto hatte nicht soviel Glück.“
„Ist er …“ Ich verstummte.
„Er war nicht unter den anderen, als wir uns gesammelt haben.“
Petto. Hätte ich nun Trauer verspüren müssen? Er war ein unscheinbarer Kerl gewesen. Eigentlich hatte ich ihn nur bemerkt, wenn er sich mit Irmer in der Wolle gehabt hatte, was in regelmäßigen Abständen geschah.
„Komm, Mädchen, lass ihn mich ins Haus tragen, die anderen sollen ihn in dem Zustand nicht sehen.“
Helge hob seinen Hauptmann, der plötzlich klein und schmächtig wirkte, auf die Arme und trug ihn zur Hütte.
Bewegungslos sah ich ihnen nach. Doch nach einem kurzen Moment drehte ich mich weg und lief hinunter zur Timella, wo ich mich voll bekleidet tief ins Wasser bewegte, um Veiths Blut von mir abzuspülen. Das Gefühl, der Tod sei in greifbarer Nähe, umgab mich. Die Luft roch nach Kampf und Blut. Das nasse Kleid wog schwer, als ich die Böschung hinaufkletterte und mich dort niederwarf. Keuchend starrte ich in den Himmel. Die Sterne verloren gerade an Kraft und verblassten am hellgrauen Firmament. Die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg über den Horizont.
Welche Konsequenzen würde Veiths drohender Tod dem Ikenwald bescheren? Mittlerweile hatte ich begriffen, dass es zu einer Katastrophe kommen würde, wenn es keinen Herrn der Wilden Jagd mehr gab. Es würde ein anderer gefunden werden müssen und dieser konnte uneingeschränkt über den Ikenwald herrschen. Veith war kein Heiliger, sonst wäre er nicht hier. Aber er sorgte für ein gewisses Maß an Ordnung und Gerechtigkeit. Er tötete präzise und ohne zu Zögern, wenn er es für notwendig hielt, doch ich hatte niemals erlebt, dass er Spaß daran gehabt hätte, jemanden zu quälen und er ließ es auch nicht zu, dass sich ein anderer diesem kranken Genuss hingab. Das Grausen überkam mich, als ich daran dachte, wie genussvoll der Fürst von Ansphal seine Finger in mich gestoßen hatte. Ihm traute ich es durchaus zu, die Würde seiner Untertanen zu missbrauchen.
Veith musste überleben! Wieso war er überhaupt verletzt?
‚Wir haben sie besiegt, wie immer!‘, hatte Helge gesagt. Es gab somit irgendwelche Kämpfe und Streitigkeiten von denen ich – natürlich – nicht wusste.
Nichts wusste ich! Gab es Gott? Gab es den Himmel? Die Hölle? War der Ikenwald wirklich das Fegefeuer? Und wohin verschwand die Seele derjenigen, die zu Staub zerfielen? Fanden sie ihre Ruhe?
Ich rieb mir verzweifelt über das Gesicht. Was tun? Vitus zu warnen, hatte momentan nicht mehr höchste Priorität, zumal ich nicht wusste, wo ich ihn hätte finden können. Langsam rappelte ich mich hoch und befahl meinem Kleid zu trocknen. Es funktionierte fast sofort. Anschließend beschloss ich, zur Hütte zu gehen und nach meinem Mann zu sehen. Nach meinem Mann … Ich schluckte schwer. Eine Buhle war ich! Nichts weiter. Die Hure eines Räubers! Und wenn er nun starb, würde ich wahrscheinlich die Hure seines Nachfolgers, wenn der mich nicht in Staub verwandeln würde.
Helge hatte die Hütte verlassen. Auch von Luis war nichts zu sehen. Ich atmete tief durch und trat vor den Spiegel. Den Spiegel, der mich erst gestern auf der Pferdekoppel in diesem herrlichen Kleid gezeigt hatte.
Nun entwirrte ich sorgfältig mein langes Haar und flocht es zu einem Zopf, den ich wie eine Krone um meinen Kopf legte und feststeckte. Das sah hübsch aus. Wilm hätte es gefallen.
Den schlafenden Veith zu betrachten, fiel mir schwer. Unter den vielen Narben und Malen war schwierig zu sagen, wie es ihm ging. Welchen Farbton seine Haut hatte, konnte ich nicht erkennen. Zumindest atmete er ruhig. Prüfend legte ich meine Handfläche auf seine Brust und das Herz schlug kräftig dagegen. Zu meiner Überraschung legte Veith seine Hand über meine. Lange, schmale Finger mit schmutzigen Nagelrändern.
„Du hast den Moment versäumt“, krächzte er, das Auge geschlossen. Vorsichtig setzte ich mich auf die Bettkante. Zum einen wollte ich ihn nicht berühren, zum anderen nicht an seine Wunde stoßen. Ich verstand, was er sagen wollte. Ich hätte ihn einfach verbluten lassen können.
„Ebenso wie du“, murmelte ich. „Du hattest gestern die beste Gelegenheit, mich zu verstoßen … und zu vernichten.“
Er antwortete nicht und so fuhr ich fort: „Ohne dich wäre ich Freiwild im Ikenwald.“
Veith grunzte. „Keine zwei Tage würde ich dir geben. Selbst mit Tarnung muss ich dich jeden zweiten Tag aus irgendeiner Katastrophe retten.“
Die Stimmung schlug abrupt um. Wütend entzog ich ihm meine Hand. „Ich habe wirklich den Moment versäumt, dich loszuwerden!“
Heftig knallte die Hüttentür hinter mir ins Schloss. Draußen musste ich erst einmal durchatmen. Ich fuhr mir über das Gesicht und spürte Nässe unter den Fingerkuppen. Tränen. Die Anspannung der letzten Tage und Wochen brach sich Bahn. Nach Entführung, Gefangenschaft und Flucht fühlte ich mich ausgebrannt.
Ich wollte nur noch zu Theresia. Sie drücken, fest in die Arme ziehen, wissen, dass es ihr gutging, besser als mir.
Mit all meiner Kraft konzentrierte ich mich auf Vitus. Wünschte mir, an seiner Seite zu sein, um mit ihm durch den Nebel gehen zu können. Stellte mir sein Gesicht vor, versuchte, seine Energie zu erspüren. Nichts geschah. Stattdessen hörte ich den Schrei eines Mannes aus der Hütte.
Instinktiv eilte ich an Veiths Bettstatt. Er hatte das Bewusstsein verloren und war schweißüberströmt. Trotz meines Ärgers über ihn tupfte ich sanft den Schweiß ab und legte wieder meine Hände auf seinen Brustkorb. Diesmal pochte das Herz schwach und unregelmäßig. War es mir möglich, meine Energie an ihn zu senden, wie er mir die überflüssige Kraft auf der Burg des Fürsten abgesaugt hatte? Erneut schloss ich die Augen und stellte mir vor, meine Lebenskraft sei eine leuchtende, große Kugel, die ich in zwei kleinere Kugeln spaltete und durch meinen Körper in die Hände wandern ließ. Dort verwandelte sich die Leuchtkugel in einen Schwarm Glühwürmchen, die von meinen Handflächen in seinen Körper strömten. Veiths Herzschlag normalisierte sich.
Ich musste weg von diesem Krankenlager. Erschöpft stolperte ich zu Helges Verschlag und klopfte heftig, bat ihn, sich um Veith zu kümmern und verschwand im Wald.
Diesmal war ich vorsichtig, als ich meine nackten Zehen in die Timella tauchte. Ansphals Häscher sollten mich kein zweites Mal aufgreifen. Doch am Fluss herrschte selige Stille. In den Ästen der Bäume zwitscherten ein paar Kohlmeisen und das Plätschern des Wassers wirkte besänftigend auf meine gereizten Nerven. Ich spürte, wie die Spannung aus meinen Schläfen wich und ließ mich zurück ins Gras fallen wie schon einmal vor wenigen Stunden.
Immer noch Frühling. Die Luft war warm, der Nebel hatte nicht so viel Macht über den Ikenwald, wie im Herbst und im späten Winter, wenn seine Schwaden fast überall nach den Seelen der Verdammten zu greifen drohten. Doch seit ich ihn durchquert hatte, fürchtete ich ihn nicht mehr so sehr, weil ich wusste, dass der Brodem nicht allmächtig war.
Ein Geräusch in den Sträuchern auf der anderen Flussseite ließ mich träge die Augen aufschlagen. Es war kein Reiter und kein Räuber, das spürte ich. Vielleicht ein Fuchs oder ein Kaninchen.
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