„Wie kommst du darauf, dass nur ein Sechstel der Zeit notwendig ist?“, erkundigte er sich beiläufig und löffelte seine kalt gewordene Suppe.
„Der Vampir sagte mir, dass er zur Sommersonnenwende, wenn der Tag 16 Stunden unter den Lebenden andauert, vier Stunden im Forno – im Fegefeuer, wie er es nennt – verbringt. Das würde bedeuten, dass seit deiner Verletzung außerhalb des Ikenwaldes sechs Tage vergangen sind.“
„Warum interessiert dich das?“ Seine Stimme klang matt. „Du solltest dich nicht an die Welt außerhalb des Nebels klammern. Das ist Zeitverschwendung.“
Gehorsam nickte ich. Was brachte es, mit ihm zu streiten?
„Heute Nacht“, flüsterte ich, „als ich versuchte, dir Kraft zu spenden und dich zu heilen, da dachte ich …“, ich schluckte, „da dachte ich, ich hätte auch deine alten Narben geheilt. Ich dachte, ich hätte dich wieder schön gemacht.“
Ein hartes Lachen schüttelte Veith Leib, das hustend verebbte, als seine Wunde zu schmerzen begann.
„Du hattest eine Menge Kraft verloren und warst halb im Delirium. Vielleicht war es ja Wunschdenken?“ Er hob eine Augenbraue. „Du wirst dich doch nicht in mich verliebt haben?“
Er gackerte fast.
Wieder einmal hatte er mich wütend gemacht. „Du hast mein Haar gestreichelt!“
„Dem Wahnsinn anheimgefallen“, spottete er. „Du bist meine Gefährtin und deine Erziehung erwartet von dir, dich deinem Mann unterzuordnen und ihm gefällig zu sein. Da ist es nicht verwunderlich, wenn du dir die Realität ein wenig Schönreden willst.“
Er umfasste mein Kinn und bohrte den Daumen in meine Haut um mich zu zwingen, ihn anzusehen. Sein Blick war kalt und abstoßend.
„Wir existieren im Subburgatorium. Wir sind dazu bestimmt, zu leiden bis zum letzten Tag. Es gibt weder Liebe, Erlösung, noch das himmlische Paradies.“
Er ließ mich los und drehte sich von mir weg.
Betäubt starrte ich auf seinen vernarbten Rücken und all die Bilder meiner schlimmsten Alpträume schwirrten durch meinen Kopf. Fratzen mit aufgerissenen Mäulern und flehend zum Himmel erhobenen Händen. Ich sah die gierigen Dämonen, die nach ihnen griffen, um sie zu verschlingen oder sie mit neunschwänzigen Katzen zu foltern und inmitten dieses Schauspiels thronend ein gleichmütiger Jesus, der von all dem Geschehen um sich herum nichts zu registrieren schien. Flankiert von hartgesichtigen Engeln, mit Schwertern und Lanzen bewaffnet, und bereit, jeden Eindringling oder Bittsteller von ihrem Himmelskönig fernzuhalten.
Gab es keine Gnade? Keine Barmherzigkeit, kein Mitleid für uns? Für die Verdammten? Zeichnete sich das Christentum nicht durch großzügige Vergebung aus?
Aber wieder einmal musste ich mir eingestehen, dass ich mich nur wenig um meinen Katechismus gekümmert hatte. Meistens hatte ich meine Ohren vor den lehrreichen Tiraden meiner Tante verschlossen, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, den Gedanken von Hiobs von Furunkeln und Geschwüren versehrten Körper aus meinem Kopf zu bekommen. Die Lehre des Gleichnisses zog ich nicht.
Leise schlich ich zu meinem Bett und rollte mich darauf zusammen, darauf gefasst, die ganze Nacht über Hiobs tote Familie sehen zu müssen, doch es kam noch schlimmer.
Geschichten aus einer anderen Zeit
Heller Kerzenschein erleuchtete den kleinen, holzvertäfelten Raum. Sie waren allein. Der Raum war vollkommen neu eingerichtet worden. Nichts erinnerte an seine Vorbesitzerin. Wilm hatte aus Eichenholz ein neues Bett gebaut, groß und massiv, aber nicht so prunkvoll mit Verzierungen geschmückt wie sein altes Ehelager. Dessen Rahmen hatte er in zwei Teile gesägt und daraus zwei einzelne Betten gefertigt, die er in dem neu angebauten Raum untergebracht hatte, in dem seine siebenjährige Tochter Theresia, liebevoll Tesi genannt, schlief. Auch Magdalenas Brauttruhe schenkte er ihr und stellte sie in ihre Kammer. Den überdimensionalen Kleiderschrank erhielt ein junges Ehepaar im Dorf. Annamaria hatte ihm mehrfach versichert, dass es ihr nichts ausmachen würde, den Schrank zu sehen und zu benutzen, aber Wilm hatte den Kopf geschüttelt.
„ Ich liebe Magdalena, aber ich liebe jetzt auch dich und will mit dir und Tesi ein neues Leben beginnen, frei vom Schatten einer toten Frau.“
Annamaria nickte leicht und wandte sich in dem Raum um. „Es gefällt mir. Dort an der Wand würde ich gerne einen Erntekranz aufhängen …“
Sie blickte zu ihm.
Lächelnd zog er sie an sich. „Alles, was du willst. Vorhänge, Tischtücher, ich erfülle dir jeden Wunsch.“
Er küsste sie fest und brauchte sich kaum vorbeugen, weil ihr Scheitel ihm bis zur Nasenspitze reichte.
Annamaria erwiderte seinen Kuss. Danach schob sie ihn ein Stück weg. „Das führen wir erst gar nicht ein. Ich bin keine Prinzessin, die von vorne bis hinten bedient werden muss.“
„ Wirst du nicht gerne verwöhnt?“, wunderte Wilm sich.
„ Doch“, lachte Annamaria, „von Zeit zu Zeit. Jetzt würde ich gern verwöhnt werden!“ Und in diesem Moment leuchtete ihr Gesicht so sehr vor Glück, dass sie so jung und hübsch aussah wie ein Backfisch.
„Diese Alpträume sind die wahre Folter“, beschwerte ich mich und zog die Füße aus der kühlen Timella.
Währenddessen schulterte Agatha ihre vollen Wasserkrüge.
„Da muss ich dir zustimmen. Am Anfang habe ich immer nur von meinen geliebten Mann Arno und meinen Kindern geträumt, wie sie um mich weinten und trauerten. Ich träumte von Arnos Tod auf dem Schlachtfeld nur wenige Jahre, nachdem ich selbst gestorben war und wie meine Kinder unter den Baronen der Gegend als Pagen und Mündel verteilt wurden. Meine kleine Susanna war erst elf und wurde einem widerlichen Mann vermählt, der ihr Großvater hätte sein können und der sie sehr schlecht behandelte.“
Die schöne Blondine wischte sich eine Träne von der Wange, lächelte jedoch.
„Aber nachdem er starb, träumte ich nicht mehr von ihr und ich hoffe, dass das bedeutet, dass es ihr danach gutging.“
Unvermittelt sprang ich auf und nahm ihr einen Krug ab. „Soll das bedeuten, wir träumen von dem wirklichen Leben der Lebenden?“
„Zum Teil. Ich träume aber auch davon, wie Ansphal die Menschen im Ikenwald quält. Was er mit den Frauen macht, die er fängt, während er nach mir sucht.“ Agatha verstummte. „Ich habe auch gesehen, was er dir angetan hat. – Manchmal denke ich, ich sollte mich ihm einfach stellen, damit der Spuk ein Ende hat.“
„Agatha“, begütigend legte ich meine Hand auf ihren Unterarm, „dieser Mann wird niemals aufhören, andere zu quälen. Und sieh, mir ist doch nichts geschehen.“ Ich lächelte.
„Aber warum nicht?“
Stirnrunzelnd dachte ich nach.
„Du weißt nicht, was geschah, nachdem er mich angefasst hat?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich sah nur, dass er dich … anfasste …“
Ein Ausdruck wie ‚begrapschen‘ wäre ihr nie über die Lippen gekommen.
„… und dann endete der Traum.“
Das glimpfliche Ende hatte sie also nicht gesehen und auch nur die unglücklichen Momente im Leben ihrer Familie. Glück zu sehen, blieb uns anscheinend verwehrt. Aber ich hatte heute Nacht doch einen glücklichen Wilm und eine überglückliche Annamaria in ihrer Hochzeitsnacht gesehen. Und noch jetzt brachte mich der Gedanke daran dazu, mit den Zähnen zu knirschen und mir zu wünschen, meine ehemals beste Freundin zu erwürgen. Sie hatte mir alles genommen, was ich geliebt hatte!
„Agatha, mir ist nichts geschehen. Veith kam und rettete mich. Es ging alles gut.“
Schweigend wanderten wir den Weg zu ihrer Höhle zurück. Immer wieder hatte ich mich in den letzten Tagen zu ihr geschlichen, um ein Stündchen oder zwei mit ihr zu verbringen, wenn die Männer unterwegs waren und niemand meine Abwesenheit bemerkte. Da sich meine Fähigkeiten mehr und mehr verstärkten und verbesserten, konnte ich das Putzen und Wäschewaschen in wenigen Minuten erledigen. Nur das Kochen machte ich auf altbewährte Art, damit weder Veith noch einer der anderen Männer auf meine Zauberkünste aufmerksam wurde. Und auch die Illusion hatte ihre Grenzen. Veith war wieder vollkommen genesen, doch seine Heilung hatte acht volle Tage in Anspruch genommen und diesen Zeitraum hatten weder ich, noch er selbst verkürzen können. Irgendwie gelang es Agatha auch nicht, Wasser innerhalb der Höhlen in ihre Krüge zu zaubern und ich hatte festgestellt, dass sie in vierhundert Jahren der Einsamkeit ihre Künste wundersam perfektioniert hatte.
Читать дальше