Früher haben wir dort in der Räucherkammer geräuchert. Ich benutze diese Leiter schon ewig nicht mehr, das würde mir den Hals brechen. Vielleicht schaust du in den nächsten Tagen mal nach, wie es dort oben aussieht?“ „Das machen ich Stiene. Darf ich fotografieren?“ „So viel du willst. Halt das alles fest. Glaubt uns in zwanzig Jahren wahrscheinlich keiner, dass ich hier noch wie anno dazumal gelebt habe. Wo heute alles so schnelllebig ist.“ Stiene ging in ihre Schlafstube und kam mit einem größeren Briefumschlag zurück: „Riecke, du kannst Dir alles abschreiben, was ich über Josef habe. Er war etwas jünger als ich, auch
deshalb könnte er noch leben.“ Sie legte ein Blatt Papier und einen Stift dazu. „Du hast etwas in mir losgetreten. Mein altes Leben ist wieder da, der Josef und die Hoffnung, dass Du etwas heraus bekommst. Auch wenn es die Nachricht über seinen Tod sein sollte. Dann weiß ich, dass er da oben auf mich wartet, so wie ich in all den Jahren, bewusst oder auch unbewusst, auf ihn gewartet habe. Gewissheit tut mir sicher gut. Ich hab viel rumgesponnen, wenn ich hier alleine war, das muss aufhören. Am Ende eines Lebens soll man Klarheit und Wahrheit ertragen können. Und vielleicht bekommt mein Junge endlich ein Foto seines Vaters, damit er mit dem Geschichten erzählen aufhören kann, wenn sein Vater endlich ein Gesicht bekommt.“ Ulrike hatte sich alles notiert. Aber da lag noch ein zusammengefaltetes Blatt. Sie nahm es auseinander und sah auf eine Bleistiftzeichnung. „Stiene, bist Du das Mädchen?“ Ja, das Bild hat mir Josef zum Geburtstag geschenkt. Mein Gott, wie lange habe ich das nicht mehr angesehen. Ich hatte es fast vergessen.“ „Josef hatte Talent,“ meinte Ulrike anerkennend. Dann faltete sie sorgsam die Zeichnung zusammen und steckte diese in den Umschlag zurück. „Für heute lass es gut sein, Stiene. Ich gehe zurück in den Dorfkrug und werde sofort anfangen zu telefonieren, und im Internet recherchieren. Die Zeit ist leider knapp, die uns beiden zur Verfügung steht.“ „Du meinst wohl, meine Zeit ist knapp, die Sanduhr ist fast durchgelaufen. Ich glaube Riecke, da irrst Du Dich. Seit langem habe ich mich nicht mehr so gut gefühlt, geradezu unsterblich.“ Stiene und Ulrike lachten, die eine hell, die andere mit rauer Stimme. Ulrike umarmte Stiene: „Es berührt mich, wenn Du mich Riecke nennst. Meine verstorbene Mutter hat mich so gerufen. Das ist auch
schon an die zehn Jahre her. Wenn das keine Fügung mit uns beiden ist“. Riecke verließ die Küche versprach aber, bald wiederzukommen. Jetzt trieb sie die Neugier. Sie wollte Josef finden. Erst als Riecke gegangen war, spürte Stiene, wie müde sie sich fühlte. „Nun mach man nicht schlapp“, munterte sie sich auf. So einen aufregenden Tag hatte sie schon lange nicht mehr erlebt, das musste sich ja in ihren alten Knochen niederschlagen. Sie ging in ihre Schlafstube, zog den Rock und die Bluse ihrer Mutter aus und strich liebevoll darüber. Mudding, hier ist vielleicht was los. Ich weiß nicht, ob dir so viel Trubel gefallen würde. Aber neugierig wärst du allemal gewesen. Dann legte sie sich in ihr Bett und schlief sofort ein.
Stiene Mattis nannte ihn so. Einfach Kliesows Enkel, als ob er keinen eigenen Namen hätte. Karl Kliesows Enkel schien das nicht zu stören. Er mochte die alte Frau, die so herzhaft scherzen und lachen konnte. Die immer geradeaus war. Sie wusste ja nicht, was er wusste. Auch deshalb brachte er ihr immer noch Fisch und hackte das Holz für ihren Ofen. Seine Familie stand in ihrer Schuld, die war von seinem Großvater, auf den Vater und am Sterbebett seines Vaters auf ihn übertragen worden. Bevor der starb, vertraute er seinem Sohn das Vergehen an. Der Großvater war es, der damals Stiene und Josef am Strand beobachtet und diese Begegnung im Schnapsdusel am Tresen im Dorfkrug erzählt hatte. Allerdings verschwieg er, wer das Mädchen war. Nur Josef nannte er und behauptete, die Frau nicht erkannt zu haben.
Stiene war damals jung, hübsch anzusehen und bei den Männern im Dorf begehrt. Karl Kliesows Meinung war, Stiene sollte im Dorf heiraten. Sich nicht mit so einem hergelaufenen Polen einlassen. Niemand wusste zu diesem Zeitpunkt, dass Stiene bereits ein Kind erwartete. Der Besitzer des Dorfkruges, Ortsgruppenführer Peters, sprang sofort hinterm Tresen hervor, schwang sich auf sein Fahrrad und fuhr in Richtung Gutshaus. Erst da wurde Karl Kliesow klar, was er mit dieser Neuigkeit losgetreten hatte. Seine Beobachtungen lagen schon Monate zurück, das war im Spätsommer 1944. Vielleicht hätte er es vergessen, wenn er Stiene und Josef nicht einen Abend vorher auf dem Kutter von Mattis beobachtet hätte. Es war kalt und er wollte schon wieder gehen, als er beide lachen hörte und ihm bewusst wurde, dass das nicht der alte Mattis sein konnte. Der hatte das Lachen seit dem Tod seines Sohnes verloren. Irgendwie fand Karl Kliesow, Stienes Lachen mit diesem anderen Mann nicht passend. Vielleicht hatte er es deshalb erzählt. Peters drohte, den Zwangsarbeiter zu erschießen, und wenn er herausbekäme, wer diese Schlampe sei, die auch gleich mit. Das ließ Karl Kliesow nicht schlafen. Am nächsten Tag war Josef mit Kliesows Beiboot weg, und irgendwie fehlte dem genug Wut über diesen Verlust. Im Stillen war er froh, dass er Josef nicht auf dem Gewissen hatte. Und als Peters ihn verhörte, weil der sich nicht vorstellen konnte, dass Karl Kliesow das Mädchen nicht kannte, stellte der sich dumm. Er schimpfte auf Peters, dass er seinetwegen das Beiboot verloren hatte, und der ihn nun auch noch von der Arbeit abhielt. Mit der Zeit verlor sich in den nächsten Wochen diese Geschichte, sicher auch durch das couragierte Auftreten von Frau von Arndt, Peters gegenüber.
Dass sie sich einige Monate später, Anfang Mai 1945, mit dem Jagdgewehr ihres vermissten Mannes erschießen würde, hätte niemand für möglich gehalten. Sie hatte nur einen Zettel hinterlassen mit der Bitte, sie im Guts Park zu begraben. Das war alles, was sie wollte. Diesen letzten Willen erfüllten die männlichen Dorfbewohner, die nicht im Krieg waren. Obwohl das nun schon fast zwei Generationen her war, hielt der Enkel von Karl Kliesow sein Wort, das er seinem Vater gegeben hatte. Manchmal dachte er darüber nach, ob er mit Stiene darüber reden soll. Schließlich war es sein Großvater, der damals als Einziger wusste, wer der Vater von Stienes unehelichem Sohn war. Hatte sie nicht ein Recht auf die Wahrheit? Dann traute er sich doch nicht. Es war gut so, wie es zwischen den beiden war, solange Stiene glaubte, dass Karl Kliesows Enkel aus reiner Familientradition und dem dörflichen Zugehörigkeitsgefühl, Hilfe leistete. Er war Stienes letzte Anker an eine untergegangene Welt, die sie manchmal idealisierte und verklärte. Oft genug schaute sie mit Ironie auf das schnelle Leben, das ihr Liebgewonnenes unter den Füssen wegspülte, wie das Hochwasser bei Sturm die Dünen aushöhlte. Wer tat sonst noch so viel für sie, wie Kliesows Enkel? Nicht einmal der eigene Sohn. Und Wiebke und Olaf lebten ihr eigenes Leben, in dem ihre Großmutter kaum eine nennenswerte Rolle spielte. Nur zu Weihnachten und zum Geburtstag riefen sie an und einmal im Jahr kamen sie in das Haus ihrer Vorfahren am Meer. Im Sommer freute Stiene sich über die wenigen Tage, die Wiebke und Olaf bei ihr verbrachten. Dann lauschte sie deren Worte, versuchte sich einzuschleichen in dieses neue Leben ihrer Nachfahren, das ihrer Seele fremd blieb.
Stiene hatte keinen Anteil am Alltag der Enkel, kannte nicht deren Nöte und Freuden. Irgendwann werde sie in ihren Erzählungen ihren Kindern sagen, „ wir hatten eine Großmutter aus einer fernen Zeit, die nicht sterben wollte, eine Übriggebliebene.“ Stiene beschloss, die Enkelkinder trotzdem zu fragen, ob sie die Kate erben möchten. Aber sie würde darauf bestehen, dass nichts abgerissen werden darf, damit ihr Sohn kein seelenloses Haus an dieser Stelle errichtet. Malte sollte das alte Haus modernisieren dürfen, das sah sie ein. In dieser Kate hatten Stienes Vorfahren um ihre Existenz gekämpft. Hier wurde überlebt, das machte sie stolz.
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