„Doch, Marie, das kann man.“ Nach diesen Worten entspannte sich Stienes, vom Wetter gegerbtes Gesicht.
„Irgendwann erzähle ich dir eine Geschichte, die ich bisher keinem Menschen anvertraut habe. Wenn ich es jetzt nicht tue, nehme ich sie mit ins Grab.“ Marie überlegte: „Dann komme ich in den nächsten Tagen nach Feierabend. Geschichten brauchen Zeit und keine Unterbrechung.“ „Du bist ein kluges Mädchen.“ „Frau Mattis, sie sollten das Haus noch nicht verkaufen, oder nur mit einem lebenslänglichen Wohnrecht. Das heißt, Sie bleiben bis zu ihrem Tod wohnen.“ „Marie, Du bist klug. Wenn das geht, dann muss der Käufer sich eben gedulden. Wer meine Hütte wirklich möchte, der kann auch warten.“ „Das meine ich auch, Frau Mattis.“ Was ich Sie schon lange fragen wollte, warum besucht ihr Sohn sie nicht?“ Stiene nahm erst einmal einen kräftigen Schluck aus ihrem Pott und bedauerte, dass der Schlehenschnaps aufgebraucht war. Sonst hätte sie sich nach dieser Frage einen Lütten genehmigt. „Marie, das ist manchmal so im Leben, Kinder verlassen ihre Eltern, verschwinden aus unserem Gefühlskreis, kappen das Tau, das das Schiff im Hafen festhält. Malte war ein guter Junge und ist es wohl heute noch. Aber eben auf seine Art. Hier war es zu eng. Meine Mutter hat ihn vereinnahmt und versucht, ihren Schmerz über Lütt Maltes Tod an ihm zu heilen. Mein kleiner Bruder war erst sechzehn Jahre alt, als er über Bord ging. Dieses ständige Erinnern an Lütt Malte in unserem Haus, das war wohl zu viel für meinen Jungen. Als er in Hamburg seinen Heimathafen gefunden hatte, entfernte er sich immer mehr. Ich bin hier aufgewachsen, wie fünf Generationen vor mir und nie weggegangen. Das war ein Leben mit Mühsal, karger
Freude und festen Ritualen. Ich brauche diesen Rahmen, das verbindet mich mit den Menschen, die vor mir hier gelebt haben. Vor zwanzig Jahren hat mich Malte einmal nach Hamburg eingeladen und wir sind zusammen mit den Enkelkindern nach Sylt gefahren. Malte war mächtig stolz, als er mir das Haus zeigte, dass er sich dort hat bauen lassen. Ich staunte nicht schlecht.
Hinter der Düne, nah am Meer, stand ein reetgedecktes Haus, mit blauen Fensterläden und der gleichen Haustür wie hier. Es war viel größer als das Original und innen erinnerte nichts an sein Elternhaus. Er hat die Maßstäbe verändert, eine Wohnstube so groß wie unsere ganze Kate. Drei Schlafstuben und zwei Bäder, und eine Wohnküche. Und das alles als Feriendomizil, für wenige Wochen im Jahr. Ich schlief im Hotel, weil die drei Stuben von Wiebke, Olaf, meiner Schwiegertochter und Malte besetzt waren. Marie, ich habe Angst, dass er seine Seele nicht mitwachsen lässt, dann geht es weiter, noch mehr und noch mehr, bis du wieder da anlangst, wo du hergekommen bist. Seitdem bin ich nicht mehr nach Hamburg gefahren. Ich habe mich fremd gefühlt in dieser anderen Welt. Eine von Herzen kommende Umarmung und die spürbare Freude, dass ich willkommen bin, das hätte nichts gekostet und mein altes Herz erfreut.“ „Frau Mattis, jede Zeit bringt Veränderung. Für ihren Sohn ist dieses Leben wahrscheinlich gut so, wie es ist.“ „Weißt Du Marie, das Altern hat seine eigenen Gesetze. Ich fange an, in die Anziehsachen meiner Mutter zu schlüpfen, mich wie sie zu fühlen, obwohl ich das nie wollte. Ich begreife jetzt erst ihren Schmerz um den Verlust von Lütt Malte, weil auch mein Sohn sich verloren hat, ich ihn verloren habe. Und ich frage mich, was
wird aus diesem Haus? Es wird Zeit, darüber nachzudenken.“ Marie unterbrach: „Nun muss ich aber los, Frau Mattis.“ „Immer bist Du in Eile, das Leben läuft Dir nicht weg, Marie.“ „Das Leben nicht, aber meine Arbeit.“
Sorgsam verschloss Stiene die Haustür ihrer schilfbedeckten Kate. Den alten eisernen Schlüssel verstaute sie in einem Stoffbeutel, den sie an ihrem Gürtel befestigt hatte. Sie trug einen knöchellangen braunen Rock ihrer Mutter, den diese mit kunstvollem Stickwerk verziert hatte. Stiene hatte dieses Talent nicht. Klatschmohn, Kornblumen und Margeriten blühten über dem Saum, ohne zu welken. Sie schüttelte den Rock, um die Blüten besser zur Geltung zu bringen. Über ihre Schultern warf sie ein gestricktes Wolltuch.
Seit Wochen ging Stiene jeden Tag den Weg zu den Dünen, um ans Meer zu kommen. Sie wusste nicht genau, weshalb sie das tat. Vielleicht, weil Josef sie zum ersten Mal hier küsste, als sie nackt aus dem Wasser stieg. Mit einem alten Handtuch kam er ihr in der Dunkelheit entgegen und schloss sie in seine Arme. Trotzdem waren beide darauf bedacht, dass niemand etwas bemerkt. Josef rubbelte unbeholfen über ihren nassen Rücken und küsste sie immer wieder sanft auf den Mund, bis auch seine Lippen nach Salz schmeckten. Wie Josef nun wohl aussehen mag? überlegte sie. Malte war seinem Vater zum Verwechseln ähnlich. Diese Ähnlichkeit hielt seit über sechzig Jahre ihre Erinnerung an ihn wach. Sie fröstelte. Fast neunzig Jahre war Stiene nun auf dieser Welt und seit Kurzem saß auf ihrem zierlichen Brustkorb ein Elefant. Der ihr oft genug die Luft zum
Atmen nahm und sich tief in ihr Inneres bohrte. Nachts wagte sie nicht mehr, auf der linken Seite ihres Körpers zu schlafen, zu bedrohlich klang das laute Pochen ihres Herzens. Viele ihrer Vorfahren waren so alt wie sie geworden. Stiene hatte beschlossen, sich keinem großen Eingriff zu unterziehen. Niemandem zu gestatten, ihren Brustkorb auf zu sägen, um nach ihrem Herzen zu greifen. Auf dem Weg zum Meer federten ihre Schritte über den weichen Boden, der durch unzählige Kiefernnadeln und einen Moosteppich lautloses Gehen ermöglichte. Links und rechts des Weges wuchsen Blaubeerbüsche. Am Wurzelwerk der Krüppelkiefern, die sich dem Wind abgewandt hatten, bildete Pilzgeflecht schmückendes Beiwerk. Auf diesem Stück des Weges benutzte sie kaum ihren Stock als Stütze. Hier zog sie ihn hinter sich her. Das war ein Familienerbstück, hart im Holz, aus Hainbuche, der Knauf kunstvoll aus Messing geschmiedet. Wenn man den Knauf abdrehte, kam ein Gefäß aus Glas zum Vorschein. In dieses füllte ihr Großvater Hochprozentigen, wenn er sich mit dem kleinen Holzkarren voller Fische auf den Weg in die umliegenden Dörfer machte. Es könnte schlechtes Wetter kommen, war seine Erklärung. Wenn es ein guter Tag war, kehrte er auf dem Heimweg in die Dorfschänke ein. Dann blieb der Schnaps im Gehstock unberührt. Wenn er nicht viel verkauft hatte, reichte der Schnaps, um den Ärger darüber runterzuspülen. Als Stiene die Dünen erreichte, sank der Stock in den feinkörnigen Sand, dadurch wurde ihr Gehen noch schleppender. Sie seufzte bei jedem Schritt. „Meine Leichtigkeit ist dahin“, stellte sie verärgert fest und schien den Schuldigen dafür zu
suchen. Drohend erhob sie ihren Stock. „Es ist nicht richtig, dass die letzten Tage meines irdischen Daseins so mühsam sind.“ Manchmal stocherte sie so lange im Sand, bis ein Feuerstein sich von seiner besten Seite zeigte. Heute fiel ihr ein kleiner Stein ins Auge, der wie ein Herz geformt war. Seufzend bückte sie sich, hob das versteinerte Kunstwerk auf und umschloss es mit ihrer rechten Hand. „Ist es so weit?“ fragte sie das Meer. Sie steckte ihren stummen Fund in den Stoffbeutel und setzte ihren Weg fort. Am Wasser angekommen bohrte Stiene ihren Stock in den feuchten Sand und hockte sich seufzend auf einen großen Findling, der hier schon seit ewigen Zeiten lag. Er hatte eine kleine Stufe, auf die sich Stiene bereits als Kind gern niederließ. Das Wetter war angenehm. Nur eine leichte Brise erinnerte an den Sturm von heute Morgen. Stiene fixierte das silberglänzende Meer, das heute der Farbe ihres ergrauten Haares ähnlich war. Obwohl hartnäckig einige helle Strähnen an ihr ursprüngliches Blond erinnerten. Am Ufer des Strandes ließ eine junge Frau ihre Kleider fallen. Nackt lief sie zum Wasser, zog mit beiden Händen spielerisch Kreise um ihren Körper, dabei tauchte sie immer wieder in das Nass. Stiene sah, dass ihr Körper braungebrannt war, ihre Brüste jugendlich frisch. Obwohl sie einige Meter entfernt war, glaubte Stiene die Augen des Mädchens seien grün, wie das Meer an manchen Tagen. Das braune Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Hals. Sie lachte und kreischte, als sie sich in die Wellen stürzte. Diese Frau hat noch alles vor sich, dachte Stiene, was ich schon lange hinter mir habe. „Hier bin ich“, hörte Stiene die Fremde vertraut rufen, als sie aus dem Wasser zurück ans Ufer kam. Noch während sie lief, griff sie ihre Kleidung und streifte diese über ihren nassen Körper. „Wie ich früher,“ dachte Stiene lächelnd. „Komm zu mir, bat sie, Du erinnerst mich an mich.“ Die junge Frau setzte sich prustend in den Sand. „Ich bin Ulrike.“ „So lange ich denken kann, heiße ich Stiene Mattis. Was machst Du hier?“ fragte die alte Frau. „Ich bin Fotografin und habe mich, in dieses abseits gelegene Dorf und den Strand verliebt. Und nun arbeite ich an einer Fotoserie über diese Landschaft.“ Stiene sinnierte. „Ich leb schon so lange hier und hab nie darüber nachgedacht, ob man sich in Landschaft verlieben kann. Es ist mein Zuhause. Kaum war ich geboren, hat mich mein Vater ans Meer gebracht und gesagt: „Guck mal, wie söt die lütte Dirn ist. Ich wünsche, dass sie so kraftvoll wie du wirst.“ „Dann hat er eine Handvoll Meerwasser genommen und mir das Gesicht abgewaschen. Ich soll stillgehalten haben. Ulrike, ich rate Dir, schau den Alten im Dorf ins Gesicht. Wenn Du geduldig genug bist, wirst Du Spuren und Geheimnisse entdecken. Du solltest dir die alte Kliesow anschauen, die sieht aus, wie der Strand nach einem tüchtigen Sturm, wenn er das Seegras aufgewühlt hat und kaum noch Sand zu sehen ist. Nur das Gestrüpp von Seegras. Nun weißt Du, wie Anna mit ihren fast hundert Jahren aussieht. Aber Hering puhlen, das kann sie immer noch. Den Hering stört das Seegrasgesicht nicht. Und von Stiene Mattis in jungen Jahren, ist auch nicht mehr viel übrig. Nur, dass ich immer noch weiß, wer ich bin. Anna weiß das nicht mehr. Nun erzähl, wohnst Du hier im Dorf?“ „Ja, aber nur, um zu fotografieren, gebürtig bin ich aus der Nähe von Schwerin. Meine schlichte Unterkunft im Dorfkrug ist ausreichend. Ich bleibe nicht mehr lange, bald werde ich nach Südamerika gehen. Weg aus Deutschland, andere Länder
Читать дальше