Als es geschehen war, da hat Stiene ihm das übelgenommen. Nach einer gewissen Zeit kamen versöhnliche Briefe aus Hamburg. Auf der Werft machte er seinen Ingenieur, verdiente gut und heiratet später eine Hamburgerin. Er schipperte auf den Weltmeeren herum, und wenn er zuhause war, flog er mit seiner Frau in die Karibik. Damit waren Stiene und ihre Mutter fast raus aus seinem Leben. „Was ist bloß in den Bengel gefahren“, schimpfte Stienes Mutter. „Keiner aus unserer Familie wäre auf solche heimatlosen Gedanken gekommen. Stiene, wo hast du den aufgegabelt?“ Das war das erste Mal, dass sie nach dem
Vater des Kindes fragte. Einmal musste es ja sein, obwohl Stiene nicht mehr damit gerechnet hatte. „Mudding, willst du das nach all den Jahren wirklich wissen?“ „Würde ich sonst fragen?“ Stiene überlegte eine Weile, immer noch unsicher, ob und wie sie mit ihrer Geschichte beginnen sollte.
„Damals, als ich auf dem Gut als Mamsell arbeitete, du weißt schon, ein Jahr vor Vaddings Tod, da gab es einen polnischen Zwangsarbeiter und ich glaube, die anderen drei waren Russen oder Ukrainer. Ich brachte den Männern jeden Abend das Essen in ihre Unterkunft. Auch, weil einer von ihnen, Josef, so schön singen konnte. Es waren schwermütige Lieder in seiner Sprache und die anderen stimmten oft mit ein.“ Stienes Mutter unterbrach: „Sag bloß, weil er so schön singen konnte, hast du ein Kind von ihm bekommen? Ich hatte dich klüger eingeschätzt.“ „Was hat das mit Klug sein zu tun“, empörte sich Stiene, „ich war seine Liebe und er meine. Josef blieb der einzige Mann in meinem Leben. Wir wussten beide, dass wir damals im Krieg, mit dieser verbotenen Beziehung unser Leben aufs Spiel setzten, wenn wir uns nachts am Strand oder im Kiefernhain trafen. Wir hatten Angst, aber das Gefühl war stärker.“ „Warum ist er dann bei Nacht und Nebel kurz vor Kriegsende mit dem Beiboot von Karl Kliesow übers Wasser nach Dänemark abgehauen? Er hat Kliesow beklaut und von unserem Kutter den vollen Dieselkanister mitgenommen. Damals hat sich das ganze Dorf aufgeregt über so viel Unverfrorenheit, bloß du nicht, nun weiß ich auch warum.“ „Mudding, es ging um sein Überleben. Der Ortsgruppenführer wollte die Zwangsarbeiter erschießen, weißt du das denn nicht mehr?“ „Ach, der olle Peters, der hat doch nur sein großes Maul aufgerissen.“ „Hätten wir es darauf
ankommen lassen sollen, Mudding? Irgendjemand hatte es dem Peters gesteckt, dass Josef sich am Strand mit einer Frau trifft. Es muss einer aus dem Dorf gewesen sein, der mich kannte und verschonte. Der Peters kam damals in die Küche gestürmt, in der die Gutsbesitzerin mit mir den Essenplan für den nächsten Tag besprach. Er brüllte sofort los: „Wissen Sie eigentlich, was ihre Fremdarbeiter treiben? Ich werde diese Brut verhaften und vor ein Standgericht bringen.“ „Sind sie von allen guten Geistern verlassen?“, protestierte Frau von Arndt mit fester Stimme, „mein Mann ist im Krieg vermisst und sie wollen meine männlichen Arbeitskräfte erschießen? Dann können sie gleich meinen Tierbestand auch auslöschen und mich dazu.“ Peters gab klein bei, gab zu, dass es nur gegen Josef ging. Drohte aber, den Vorfall zu melden. Dann würde er wiederkommen. Und die Schlampe, die sich mit dem Polen eingelassen hatte, soll auch gleich mit erschossen oder aufgehängt werden. Als er aus der Küche stürmte, verschloss Frau von Arndt die Tür und vergewisserte sich, dass Peters aus dem Haus war. So schnell ließ sie sich nicht einschüchtern. „Stiene, bring Josef so schnell es geht in Sicherheit. Am besten heute Nacht. Mit Peters ist nicht gut Kirschen essen.“ Dann ging sie aus der Küche, drehte sich noch einmal um: „Spare nicht an einer Wegzehrung für ihn. Wenn man rudert, ist der Weg nach Dänemark ziemlich weit. Besser wäre ein Beiboot mit Motor. Wenn es einer schafft, dann Josef. Mudding, sie hat es gewusst. Und mit dem Beiboot, das war meine Idee. Ich dachte, Karl Kliesow, dem tat das am wenigsten weh. Und als ich Vaddings Kutter an ihn verkauft habe, hab ich das Beiboot vom Preis abgezogen, damit war ich
nichts mehr schuldig.“ „Stiene, der Krieg war doch bald zu Ende, nur noch wenige Monate und die Männer hätten nach Hause gehen können. Oder Josef wäre hier geblieben bei dir und dem Kind. Malte hätte einen Vater gehabt. Aber vielleicht wollte dein Josef keine Verantwortung übernehmen, dann doch lieber bei Nacht und Nebel verschwinden.“ „Mudding, ich weiß bis heute nicht, ob er noch lebt. Ich habe nie wieder etwas gehört.“ Stiene machte eine Pause und knetete nervös ihre Finger. „Schöne Liebe, warf Stienes Mutter ein, „dich schwanger sitzen lassen, und sich nicht mehr melden. Gut, dass ich es nun weiß, jetzt kann ich Malte in Hamburg besser verstehen, der ist nicht wie wir, der kommt nach Josef, einfach abhauen und in der Weltgeschichte umher schippern. Und dunkle Haare hat er auch. Aber, dass Josef sich nicht mehr bei dir gemeldet hat, das nehme ich ihm krumm. Da gibt es nur eine Entschuldigung für, dass er tot ist, weil mit dem Boot abgesoffen.“ Damit war für Stienes Mutter die Sache um den Kindesvater von Enkel Malte erledigt.
Maltes Geburt hatte Stiene und Else Mattis das Gefühl geschenkt wieder eine Familie zu sein. Dass Malte, kaum erwachsen, aus seinem bisher gewohnten Umfeld verschwand, war seiner Großmutter auf die Nieren geschlagen. Mit den Jahren und dem Bewusstsein, wer der Kindesvater war, wurde Stienes Mutter immer matter. Sie behielt nicht mehr alles im Kopf. Nachts wälzte sie sich schlafarm im Bett umher und stöhnte. Teilnahmslos saß Else auf der Holzbank vor dem Haus und schaute in Richtung Meer. Manchmal fragte sie: „Stiene, weißt du, wann Vadding und der lütte Malte wieder nach Hause kommen? Es ist schon spät und sie müssten längst vom Fischen zurück sein. Geh doch mal zum Wasser und schau nach.“ Das
waren Momente, in denen Stienes Augen sich mit Tränen füllten, obwohl sie sonst nicht nah am Wasser gebaut hatte. Sie ging zum Strand, kehrte um und setzte sich zur Mutter auf die Bank: „Mudding, Vadding und Lütt Malte kommen heute spät. Du sollst nicht warten, das haben sie mir aufgetragen. Lass uns ins Haus gehen, hier draußen wird es langsam zu kalt.“ In dieser Nacht rief die Mutter nach ihr: „Stiene, versprich mir, dass kein Kind aus unserer Familie mehr Malte heißen soll. Der Name hat kein Glück gebracht.“ Dann starb sie mit einem tiefen Seufzer. Sie hatte sich müde und wund gewartet.
An das alles erinnerte sich Stiene neben der Holzmiete, und dass das wohl die letzte in ihrem irdischen Dasein sein würde. Umso entschlossener war sie nun, Karl Kliesows Enkel zu fragen, ob er das Haus kaufen möchte. Der hatte es verdient, und tief in ihrem Inneren fühlte sie sich immer noch ein wenig schuldig. Zurück in der Schlafstube zog sie sich den langen Rock ihrer Mutter an, auch deren Bluse und warf das warme Schultertuch über. Stienes Gang glich immer mehr dem ihrer Mutter. Auch deren Art zu sprechen hatte sich unbemerkt, mit zunehmendem Alter bei ihr eingeschlichen. In der Küche kochte sie sich einen Pott voll Bohnenkaffee und schüttete den Rest des Schlehenschnapses der letzten Saison hinein. Bis Oktober musste sie nun ohne den gewohnten Schluck auskommen. „Die Schlehen brauchen den ersten Frost, sonst schmeckt der Schnaps nicht“, erzählte sie nebenbei der Katze. Als es an der Tür klopfte, hoffte Stiene auf Marie. Laut rief sie: „Nun komm schon.“ Die Tür wurde geöffnet und herein kam ein gutaussehender junger Mann: „Frau Mattis?“ fragte er zögernd: „Was dachten Sie denn, wer ich bin? Hier wohnt sonst niemand.
Ich bin Stiene Mattis.“ „Darf ich reinkommen?“ „Sie sind ja schon in der Stube. Eigentlich dürfen Sie das nicht. Ich lasse keinen Fremden in mein Haus, bevor er mir nicht gesagt hat, was er vorhat.“ Der junge Mann entschuldigte sich und Stiene bat ihn an den Holztisch, auf dem ihr Kaffee- Pott stand.
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