In der Kate stand das fertige Geburtstagsessen im Ofenrohr, zugedeckt mit warmen Tüchern. Auf dem Tisch in der guten Stube ein Napfkuchen bestreut mit ordentlich Puderzucker. Auf Lütt Maltes Platz lag ein aus Schafwolle gestrickter Pullover mit dicken Zöpfen verziert. Den hatte er sich gewünscht. Stiene hätte gern mitgeholfen, aber die Mutter gab die Handarbeit nicht aus der
Hand. Obwohl die Mattis- Kate außerhalb des Dorfes stand, blieben Stiene und ihre Mutter nicht lange allein am Strand. Etliche Dorfbewohner gesellten sich zu ihnen, vor allem die Fischer des Dorfes. Dass ein Kutter überfällig war, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Man stand zusammen und irgendjemand begann wortlos Schnaps auszuschenken. Als das Boot endlich in Sicht kam und auf die Küste zusteuerte, brach großer Jubel aus, weiter konnte Stiene nicht denken. Obwohl so viele Jahre vergangen waren, musste sie in letzter Zeit immer weinen, wenn dieser Unglückstag in ihre Erinnerung kam.
Die Männer am Strand packten an und halfen Malte beim Festmachen. Stienes Mutter war nicht mehr aufzuhalten und sprang auf das Schiff. „Wo ist mein Junge?“, schrie sie aufgebracht, obwohl sie längst ahnte, dass der lütte Malte nicht mehr nach Hause kommen würde. Dabei schlug sie immer wieder auf ihren Mann ein, bis einige Männer sie von Bord brachten. Was war geschehen? Im tobenden Sturm hatte eine Welle den Kutter überrollt und unter Wasser gedrückt. Als der wieder auftauchte, war Lütt Malte verschwunden. Der Vater schleuderte den Namen seines Sohnes gegen den Wind, gebündelt mit inniger Hoffnung, dass Malte da irgendwo auf einer Welle schwimmen würde und er ihn wieder einsammeln könnte. Er hatte nicht nur das Netz verloren, nun auch noch den Jungen. Kurz überlegte er, ob er den Kutter und sich absaufen lassen sollte. Aber irgendwie hing der alte Mattis an seinem Leben. Daran änderte auch der Tod seines einzigen Sohnes nichts. Er wollte Lütt Malte zum Mann machen, stattdessen hat er ihn in den Tod geschickt. Gott würde ihm das sicher übelnehmen.
Wie er sich nach Hause gekämpft hat, das war aus seinem Bewusstsein gefallen, zu sehr fürchtete sich Malte davor, das Unwiederbringliche seiner Frau sagen zu müssen. Die vergötterte den Jungen, was oft genug zwischen den Eheleuten zu lautstarken Auseinandersetzungen führte. Stiene schmiss bei solchen Gelegenheiten ein warmes Schultertuch um und ging mit großen Schritten über die Düne zum Meer. „Die zanken sich mal wieder um das goldene Kalb, ich bin ja wohl nur Bronze“, schimpfte sie.
Else Mattis sprach an diesem verfluchten Tag und auch an den nächsten Tagen kein Wort mehr. Sie schloss sich in der guten Stube ein. Alles Klopfen nützte nichts. Als sie endlich heraus kam, zerschnitt sie den Pullover und warf ihn Stück für Stück in den Ofen. Dabei starrte sie ins Feuer das lichterloh brannte. Als sie auch noch den Napfkuchen verbrennen wollte, nahm Stiene ihn an sich. „Mudding, das bringt Malte nicht zurück. Der Kuchen kann nichts dafür.“ „Was weißt du denn?“ schrie sie die Tochter an.
Dabei hätte die Mutter ihre Tochter kaum übersehen können. Stiene war hoch gewachsen, fast so groß wie ihr Vater. Wenn sie ging, federten ihre Schritte ein wenig. So, als ob sie auf Moos treten würde. Ihr Körper war schlank und fraulich, ihr Haar hellblond, wie bei allen Mattis Abkömmlinge. Einmal sagte ihr Vater: „Deine Augen sind so blau, wie die lütten Vergissmeinnicht in unserem Garten.“ Das freute Stiene, weil er sonst nicht mit Komplimenten um sich warf. Als er längst neben den anderen Mattis auf dem heimischen Kirchhof lag, schaute Stiene immer mal in ihrer kleinen Badestube in den Spiegel: „Vadding,“ sagte sie, „du hattest recht, meine Augen sind immer
noch so blau wie Vergissmeinnicht.“ Mit Maltes Tod kamen Veränderungen. Die Mutter, die sonst wie Stiene kichern und lachen konnte, verschloss sich. Sie trauerte die nachfolgenden Jahre und bezog immer wieder den verlorenen Sohn in all ihre Handlungen ein. Was hätte der Junge dazu gesagt? Wen hätte er geheiratet und wie viele Enkel hätte er ihr geschenkt? Während sich bei Tochter Stiene diesbezüglich nichts tat. Nicht einmal einen Freund hatte sie. Die Mutter lebte ein Leben der Erinnerungen. Der alte Malte trank mehr als bisher und kam oft betrunken nach Hause. Es war immer das gleiche Ritual, kaum betrat er die Stube, keifte seine Frau ihn an. Sie machte kein Hehl aus ihrer Schuldzuweisung. Warum musste er auch bei Sturmwarnung noch rausfahren? Er war doch ein erfahrener Seemann! Warum war der Junge nicht unter Deck, was hatte der da draußen in dieser Apokalypse zu suchen? Stienes Mutter sprach es aus, was dem alten Malte das Herz nach und nach brach: „Du hast den Jungen auf dem Gewissen.“
Seit dem Tod des Sohnes fuhr der Alte zwar noch zur See, kam aber oft genug ohne Fang zurück. Stiene war das unheimlich, er hatte doch sonst gut gefischt, verstand etwas von seinem Handwerk. Was macht er da draußen? Auf ihre Nachfrage, woran das wohl lag, murmelte er: „Ich hab jedes Mal Angst, dass der Junge in meinem Netz ist.“ Stiene schüttelte sich bei diesem Gedanken. „Das will ich mir gar nicht vorstellen,“ flüsterte sie. Jetzt wusste sie, dass ihr Vater immer dieses Horror Bild vor Augen hatte, wenn er das Netz auswarf. Es folgte ein seltener Moment zwischen Vater und Tochter.
Stiene ging auf ihn zu und umarmte ihn, dabei legte sie ihren Kopf an seine Schulter. Malte Mattis war keine Zärtlichkeiten mehr gewöhnt. Er wusste nicht einmal in diesem Moment, ob es sich schickte, so innig von der eigenen Tochter umarmt zu werden. Er schluckte, als er sich von ihr löste: „Lass man gut sein, Dirn. Gott wird das alles richten.“ Das Leben wurde durch den schlechten Fang nicht leichter. Oft saß der alte Malte auf dem Steg, an dem sein Kutter vertäut war und warf Angeln aus. Für das tägliche Essen reichte das, was er dort fing, aber nicht zum Überleben. Es waren karge Zeiten und im Dorf munkelte man, dass der alte Mattis tatsächlich das Fischen auf See verlernt hatte. Als Stiene zugetragen wurde, dass auf dem Gut eine Mamsell gesucht wurde, lief sie so schnell sie konnte zum Gutshaus. Niemand sollte ihr zuvorkommen. Betend hoffte sie, mit der Arbeit auf dem Gut, dem trostlos gewordenen Elternhaus tagsüber den Rücken kehren zu können. Frau von Arndt, deren Mann seit dem Winter 1943/44 in Russland vermisst blieb, kannte Stiene bereits als Kind. Und die Gutsherrin ging davon aus, dass dieses kraftvolle Fischermädchen sie nicht enttäuschen würde. Während es für den alten Mattis inzwischen ein Ritual geworden war, das Wochenende im Dorfkrug beim ollen Peters zu verbringen.
Es war immer derselbe Weg, den er dorthin nahm. Er ging aus dem Haus, über den Hof, durch den Gemüsegarten, über die Streuobstwiese, bis zum Deich. Er hätte auch gleich den Weg vom Haus auf den Sandweg durch den kleinen Kiefernhain bis zum Dorf nehmen können. Aber Malte mochte es auf seinem Land zu gehen, den Boden unter seinen Füssen zu spüren, wie einst seine Vorfahren. Am Deich angekommen, fixierte er das Meer. Seit Lütt
Maltes Tod hatte er sich angewöhnt, so lange er Wasser sah, zu fluchen. Er kramte alle Schimpfwörter aus seinem Gedächtnis, die er je gehört hatte. Erst als er in die Nähe des Dorfes kam und das Meer aus seinem Blickfeld verschwand, schwieg er bis zum Dorfkrug. Hier war der Ort, an dem er geschätzt wurde, wo man ihm auf die Schulter klopfte. Es gab Gleichgesinnte und Männer, die ihn verstanden und ihm nie die Schuld an dem Unglück gegeben hätten. Viele von ihnen kannten ähnliche Situationen, hatten aber mehr Glück gehabt.
Der alte Mattis muss sternhagelvoll gewesen sein, als er sich endlich auf den Weg nach Hause machte. Auf dem Deich entlang, wo ihm die Flüche ausgingen, durch die Streuobstwiese, den Gemüsegarten, bis zum Hof. Als er an der alten Kate anlangte, sah er einen schwachen Lichtschein durch die niedrigen Fenster. Else saß wohl noch mit einer Petroleumlampe in der Küche und wartete, um ihn zu beschimpfen. Heute brachte er es nicht über sich, hineinzugehen. Malte torkelte über die Dünen bis ans Meer. Anders als im Suff konnte er seine Schuld und Elses Hass nicht mehr ertragen. Sie hatte sich sogar ausgedacht, dass Lütt Malte nicht Fischer werden wollte. Das hätte der Bengel ihm doch gesagt. Ihm seinem Vadding, wenn es so gewesen wäre.
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