riechen, bunte Röcke tragen, tanzen bis zur Bewusstlosigkeit. Waren Sie schon einmal woanders?“ Stiene blickte erstaunt, fast erschrocken. Das hatte noch nie jemand gefragt. Diese Sehnsüchte waren ihr fremd geblieben. Nicht einmal in der Nacht, als sie Josef zur Flucht verhalf, wäre sie mit nach Dänemark oder nach dem Kriegsende nach Polen gefahren. Es war so, immer wenn sie in Hamburg bei Malte und den Enkelkindern zu Besuch war, fühlte sie sich auf eigenartige Weise fremd und kränkelte, bis sie wieder zu Hause in ihrer Hütte war. Und nun gluckte sie immer noch am selben Ort, war über die Dünen kaum hinaus gekommen und hier saß ein junges Ding, das bis an das Ende der Welt reisen wollte, nur um bunte Röcke zu tragen und bis zur Bewusstlosigkeit zu tanzen? Und sie fragte sich, warum diese junge Frau das alles nicht hier erleben wollte. Stiene wiegte ungläubig ihren Kopf: „Vielleicht habe ich damals meine Wünsche, meine Hoffnungen, meine kleine Rebellion im Meer ertränkt, als mein Josef kurz vor Kriegsende, von diesem Strand aus, über das Meer nach Dänemark fliehen musste. Am nächsten Tag hätten die Nazis ihn erschossen, wegen unerlaubten Kontakts zu einer arischen Frau. Das war ich. Damals ist ein Teil von mir hier am Meer gestorben und vielleicht hat Josef die Reise über das Wasser nicht überlebt. Wer weiß das schon? Es war eine schreckliche Zeit. In den letzten Kriegswochen haben wir statt Bernstein, die angeschwemmten Toten am Ufer eingesammelt, deren einzige Hoffnung zu überleben, ein Schiff gewesen war. Wenn das bombardiert oder torpediert wurde, war alle Hoffnung dahin. Namenlos liegen sie begraben auf dem Dorffriedhof. Wer ist so erbarmungslos und schießt auf überladene Schiffe mit Frauen, Kindern und Verwundeten? Auf dem Wasser spielten sich Tragödien ab. Nur unser gemeinsames Kind ist mir geblieben.“ „Haben Sie nie nach ihrem Josef gesucht?“ Stiene fühlte sich bei dieser Frage von Ulrike ertappt, weil sie nie etwas unternommen hatte. „Wo sollte ich suchen? In diesen Wirren der letzten Kriegstage und der Zeit danach? Josef war Pole und wir durften lange nicht dorthin reisen. Irgendwann, fand ich, war es zu spät. Und mein Sohn war auch nicht begeistert, dass sein Erzeuger, wie er ihn nennt, ein ehemaliger Zwangsarbeiter war. Wenn ihn jemand nach seinem Vater fragte, erfand er eine passende Legende: Der Vater sei Fischer gewesen und auf See geblieben. Das löste Bedauern aus und erlaubte keine Nachfrage. Und ich habe das nicht korrigiert.“ „Stiene Mattis, soll ich mitkommen auf eine Reise nach Polen? Eine Reise, die Sie nie angetreten haben?“ „Riecke, ich kann mich kaum noch von meinem Haus bis hier bewegen, wie soll ich das schaffen?“ „Stiene, wir holen Versäumtes nach. Sie haben nichts mehr zu verlieren, außer Ihrem irdischen Dasein.“ „Das hast du brutal schön gesagt, aber es ist zu spät. Das einzige, was ich noch wissen möchte, ist, ob Josef noch lebt.“ „Dann lassen Sie es uns gemeinsam herausfinden. Ich brauche seine Daten und werde recherchieren. Ich bin überzeugt, wenn Josef noch leben sollte, er würde Dich immer noch lieben, so schön, wie Du bist.“ Ulrike hatte Stiene einfach geduzt und sie protestierte nicht einmal. Das war ungewöhnlich, stattdessen lachte sie herzlich: „Du kannst einen Menschen richtig um den Finger wickeln. Riecke, hilf mir auf die Beine und lass uns zu meiner Hütte gehen. Ich wohne gleich hinter der Düne, dort gebe ich Dir alles, was ich über Josef habe.“ „Sag bloß, diese altersschöne Kate gehört Dir? Könnte ich mich mächtig drin verlieben.“ „Altersschön ist gut, aber das ist inzwischen auch ein Pflegefall, so ähnlich wie ich. Macht ja schon lange keiner mehr was am Haus. Ich glaub, so lang min Vadding tot ist. Der ist, wie mein Großvater, Stammgast im Dorfkrug gewesen.“ Bevor Ulrike Stiene aufhalf, zückte sie ihren Fotoapparat und ehe die alte Frau protestieren konnte, hatte Ulrike Fotos geschossen. Sie kicherte zufrieden und lachte dann laut. „Stiene, was für ein schöner Moment, Du und das Meer. Du schmückst den Strand mit Deiner Anwesenheit.“ „Riecke, Du meinst wohl, ein Fossil mehr. Du schmeißt aber auch mit Komplimenten um Dich. Meinst Du, dass das gut ist? Mit mir kannst Du das machen, ich bilde mir nichts ein, aber wenn Du jemanden so mit Deinem Verzücken kommst, kann das auch mal ins Auge gehen.“ Stiene wunderte sich nicht einmal, dass sie mit Ulrike so vertraut war, wie selten in ihrem Leben mit einem Menschen. „Vielleicht hätte sich das mit einer Tochter so angefühlt?“, dachte sie. „Mit meiner Schwiegertochter komm ich nicht überein, immer ist diese innere Ablehnung mir gegenüber im Raum, die mir zu verstehen gibt, dass ich nie gut genug war und bin.“ Und nun fühlte Stiene in Ulrikes Gegenwart so etwas, wie ein leichtes Glück. Sie begann wie Riecke zu lachen, erst vorsichtig dann laut, bis beide Frauen nicht mehr wussten, warum sie lachen.
Am Haus angekommen, strich Ulrike zärtlich über die alte Haustür und bewunderte das Originalschloss. „Was für eine filigrane Handarbeit.“ „Alles noch wie früher“, meinte Stiene nicht ohne Stolz. „Dir müssen die Makler die Hütte einrennen. Dein Haus erfüllt drei Herzenswünsche aller Immobilienhaie, Lage, Lage, Lage.“ „Nun komm erst mal rein. Drinnen verliert sich ganz schnell Dein Schwärmen, da nützt auch nicht das Meer vor der Tür.“ Stiene hatte sich getäuscht, Ulrike bestaunte den gemauerten Ofen, die alte Standuhr, die von Hand geleimten Möbel, einfach alles. „Riecke, man könnt ja denken, Du kommst aus einer anderen Zeit, und Du bist mit diesen Dingen aufgewachsen und teilst deshalb meine Freude über das alles hier.“ „Stiene, vielleicht hab ich Sehnsucht nach Beständigkeit? Du hast nichts ausgewechselt, Dich nicht unterworfen, hast das alles gehütet. Was für ein fester Charakter. Ich kann das von mir nicht sagen. Ich bin verführbar. Wirst Du das Haus Deinem Sohn vererben?“ „Ich weiß es nicht. Sein Interesse ist müde. Die beiden Enkelkinder werde ich fragen, das gehört sich so. Ich hatte auch an eine alteingesessene Fischerfamilie gedacht, falls meine Familie keinen Wert auf das Haus legen sollte. Und heute war ein junger Mann hier, mit Anzug verkleidet, und wollte es kaufen. Ich bin ganz baff von diesem plötzlichen Interesse.“ „Stiene, das ist kein Wunder. Das hier ist die letzte wirkliche Idylle abseits des Dorfes. Du bist die einzige, die direkt hinter der Düne wohnt. Lass dir das nicht abschwatzen. Vielleicht reißt der Käufer das Haus ab, und setzt irgendeine Villa oder ein Hotel an diesen schönen Platz. Es ist einiges möglich, wenn man genug Seilschaften hat. Stiene, ich werde mich umhören. Wie heißt der Typ, der hier war?“ „Christian Burwitz, meine Mutter würde sagen, verdammt hübscher Bengel.“ „Versteck Dich man nicht hinter Deiner toten Mutter, das kann ich nicht nachprüfen.“ „Du nimmst mich ja ganz schön aufs Korn.“ Na gut, gab Stiene zu, „ich fand ihn auch hübsch.“ „Stiene Mattis, wenn ich genug Geld hätte, würde ich mich in die Reihe der Interessenten stellen, dann könnten wir eine WG gründen. Aber nur, wenn Du noch eine Schlafstube für mich hast.“ „Du bist hier nicht bei armen Leuten, Ulrike.“ Stiene lachte laut. „Komm, ich zeige Dir das Haus. Im Keller brauchen wir nicht anzufangen, den gibt es nicht, das war damals nicht üblich. Meine Schlafstube erreiche ich mit wenigen Schritten von der Küche. Nebenan war früher das Kinderzimmer, mein Bruder Malte und ich teilten es uns, bis ich vierzehn Jahre alt wurde. Dann zog ich in die nächste Kammer und Malte blieb in der Kinderstube, bis er über Bord ging. Die gute Stube, unser Wohnzimmer, wurde nur an Sonn-und Feiertagen benutzt. Es war sehr festlich, wenn wir den Raum betreten durften und das Essen aufgetragen wurde. Wir kamen uns vor wie im Museum. Mussten uns ordentlich benehmen, durften nicht kleckern. Eigentlich war es eher Strafe als Freude. In der Küche, am alten Holztisch, konnte schon mal was daneben gehen. Mutter wischte ohne Geschrei mit dem Lappen drüber. Aber, wenn etwas auf die Sonntagsdecke kam, dann gab es schon mal eine tüchtige Backpfeife. Und von der Küche, gleich neben dem Ofen, kann man mit einer schmalen Leiter nach oben auf den Dachboden steigen.
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