„Du hast Recht: Du hast mir wehgetan“, sagte ich, was sein Gesicht dazu brachte, dass es sich vor Schmerz verzog.
Michael lehnte seine Stirn an meine. Als er sprach, strich sein warmer Atem über mein Gesicht. „Ich liebe dich. Du darfst das niemals vergessen“, hauchte er. Leichter gesagt als getan. In mir tobte ein Sturm der unterschiedlichsten Gefühle: Wut, Traurigkeit, Zuneigung, Sorge, Enttäuschung. Ich wusste nicht, welchen Weg ich einschlagen sollte: den der Versöhnung oder den des Streits? „Und liebst du mich denn auch?“, fragte Michael. Anscheinend erwartete er auf seine zärtliche Liebeserklärung eine herzzerreißende Reaktion meinerseits. Mein Schweigen dauerte ihm wohl zu lange, also wagte er den Frontalangriff.
„Im Moment nicht besonders“, konterte ich und stieß ihn von mir weg. Der Fahrstuhl klingelte, die Türen glitten gemächlich auf und ich trat in die hell erleuchtete Kabine ein. Ich drückte auf die Taste für unsere Etage und den Knopf, der das Schließen der Türen beschleunigte. Obwohl ich schnell handelte, war es zu langsam für Michael. Flink schlüpfte er in den Fahrstuhl und beraubte mich der Möglichkeit, ihm eines auszuwischen.
„Du verletzt mich, Ada“, bemerkte er.
Ich zuckte mit den Achseln. „Du hast es nicht anders verdient.“
„In Ordnung. Sind wir dann jetzt quitt?“
Im hellen Licht des Fahrstuhls stehend konnte ich seine Erscheinung besser betrachten als im Hausflur, der nur von einer statt zwei Lampen erleuchtet worden war. Bei seinem Anblick lief mir das Wasser im Munde zusammen. Es gehörte verboten, so sexy zu sein. Die ausgeblichene Jeans, deren Farbe durch den Regen viel dunkler wirkte, saß eng an Michaels langen Beinen und ließ wenig Raum für Fantasie, besonders in einer gewissen Region auf der Vorderseite. Auf der schwarzen Lederjacke lagen die Wassertropfen wie kleine Perlen. Er musste sie während seines Höllentrips auf dem Motorrad offen gelassen haben, da sein T-Shirt völlig durchnässt war. Es klebte auf seiner Haut, die dunkel durch den Stoff hindurchschien. Seine Muskeln und andere anatomische Besonderheiten zeichneten sich deutlich ab. Er hätte nicht mehr preisgeben können, wäre er nackt gewesen. Ich leckte mir unwillkürlich mit der Zunge über die Lippen und staunte nicht schlecht, als Michael die Jacke auszog, die Arme ausbreitete und sich um die eigene Achse drehte, sich mir präsentierend von allen Seiten. Als er mit dem Gesicht wieder zu mir stand, sah er meinen missbilligenden Blick und meine abwehrende Haltung.
„Wenn du dich über mich lustig machen willst – das trägt nicht unbedingt zu meiner Besänftigung bei“, stellte ich klar.
„Ich mache mich nicht über dich lustig, Liebste. Ich finde es großartig und mehr als schmeichelhaft, die Begierde meiner Frau so offenkundig in ihrem Gesicht stehen zu sehen.“
„Pah!“, machte ich, reckte das Kinn in die Höhe und wandte den Kopf weg. Es nützte nur nichts, da auf dieser Seite des Fahrstuhls ein Spiegel hing, in dem ich Michael sah, wie er sich den unteren Saum seines T-Shirts schnappte, ihn ein Stück nach oben zog und damit sein Gesicht trocken tupfte, was sinnlos war, da der Stoff ebenso nass war. Aber Michael hatte gelernt zu spielen. Er wusste ganz genau, dass ich ein visueller Mensch war, ganz besonders wenn es um ihn ging, und dass er mich, indem er durch diese Aktion seine wohl definierten Bauch- und Brustmuskeln entblößte, wuschig machte. Ich schluckte den Speichel in meinem Mund hinunter. „Dieser Auftritt bringt auch nichts“, log ich und gab mich unempfänglich für sein Balzverhalten.
„ Mhh “, machte er. Sein Spiegelbild rieb sich das Kinn und suchte den Fahrstuhl mit den Augen ab, als würde an seinen Wänden die Lösung für das Problem geschrieben stehen. Schließlich trafen sich unsere Blicke in dem Spiegel und Michael fragte: „Und was ist hiermit?“ Schnell wie ein Blitz schoss er auf mich zu. Seine Hände packten mich grob an den Schultern. Er wirbelte mich zu sich herum und presste seine Lippen auf meine. Stürmisch, übermütig küsste er mich, sodass es mir die Luft zum Atmen nahm, während seine Hände meine über seinen Körper dirigierten. Als er sie dorthin geführt hatte, wo er am empfindlichsten war, löste er seinen Mund von mir, warf den Kopf zurück und stöhnte laut. Alles, was ich denken konnte, war: Er ist ein Bild von einem Mann! Ich drehte den Spieß um und stürzte mich nun auf ihn. Unser Atem wurde eins, unsere Herzen schlugen im selben rasanten Tempo. Es gab kein er und ich. Es gab nur wir. Nun ja, bis zu einem gewissen Punkt. Bis zum äußersten kam es nicht. Leider. Das Klingeln des Fahrstuhls, welches ich niemals zuvor als so dermaßen unerträglich empfunden hatte wie in diesem Augenblick, und eine Stimme, die uns ansprach, beendeten unser Tete-a-tete. „Guten Abend Mister und Misses Dale.“ Michael und ich stoben auseinander wie von der Tarantel gestochen. Geistesgegenwärtig platzierte er mich vor sich, damit der Störenfried nicht noch mehr Zeichen seiner Erregung sah, als er es ohnehin schon getan hatte. Mit hochrotem Kopf sahen wir unsere Nachbarin Misses Winston an, eine rundliche ältliche Lady, die uns grinsend und mit aufgemalten wackelnden Augenbrauen unverhohlen von oben bis unten musterte. Michael schob mich vor sich her in Richtung der Fahrstuhltüren. „Guten Abend Misses Winston“, sagte er. Seine Stimme war rauer als üblich und belegt. Er räusperte sich. „Wie geht es Ihnen?“, fragte er, nun wieder Herr seiner selbst.
„Gut, danke. Und Ihnen?“, erkundigte sie sich bei ihm mit einem Zwinkern.
„Bestens, bestens, danke“, antwortete Michael.
„Ja, das sehe ich“, erwiderte sie, lehnte sich ein Stück zur Seite, vortäuschend, einen Blick auf sein bestes Stück zu werfen.
Im Spiegel sah ich, wie Michael an sich hinunterschaute, kontrollierend, ob ich ihn nach wie vor verdeckte. Er sah zu der Alten, lächelte peinlich berührt und manövrierte uns beide aus der Kabine. Sobald wir draußen waren, ließ er mich los, drehte sich um und verschwand in Richtung unserer Wohnungstür. Ich wollte ihm folgen, doch Misses Winstons Hand auf meinem Arm hielt mich zurück. Ich wandte mich zu ihr um und sah sie fragend an. Sie zog mich dicht zu sich heran und flüsterte: „Ich verstehe Sie voll und ganz. Wäre ich an Ihrer Stelle, könnte ich auch nicht die Finger von ihm lassen.“
Nachbarn – wie sehr ich sie vermisst habe.
Vermutlich war es besser, dass wir unterbrochen worden waren. Ich hatte durch die Sorge um Michael, das Warten auf seine Rückkehr und die Liebesspiele viel Zeit verloren. Meinen Unmut darüber, dass ich den Vampiren etliche Stunden Vorsprung geschenkt hatte, in meiner Heimatstadt nach Belieben zu wüten, ließ ich an Michael aus. Er konnte von Glück sagen, dass es schon spät war und Rosalie in ihrem Bett friedlich schlummerte, wodurch ich gezwungen war, ihn leise zu beschimpfen. Da mir das nicht reichte, versetzte ich ihm einige heftige Boxhiebe, von denen er noch eine Weile etwas haben würde in Form von blauen Flecken. Als ich meine schwarze Tarnkleidung, perfekt, um mit den Schatten der Nacht zu verschmelzen, aber auch um Blutspritzer zu kaschieren, angelegt hatte, fehlten nur noch meine Waffen. Bei dem Brand in der St. Mary’s Kirche hatten wir alles verloren. Alles, was von jener Zeit noch zeugte, waren das Schwert, der Bogen und die Pfeile sowie die Pistole, eine Handvoll Kruzifixe und die Silberkugeln. Die letzten beiden Utensilien für die Jagd waren rapide zur Neige gegangen, und ihre Herstellung war für Michael und mich nicht mehr möglich. In der unterirdischen Anlage hatten wir eine großartige ausgestattete Werkstatt besessen. Nichts war uns davon geblieben: keine Tiegel, Gussformen oder Feilen, Messer und Eschenholz für Pfeile. Nix, nüscht, null, nada. Nur dank der hilfsbereiten Gemeindemitglieder, die Michael und mich nach wie vor unterstützten, saß ich nicht völlig auf dem Trockenen. Wie auch immer sie an die Dinge kamen, ich war unendlich dankbar und stellte keine Fragen, deren Antworten mir nicht gefallen oder mich in Bedrängnis bringen würden. Ich wog die Silberkugeln in meiner Hand. Es waren nur noch ein halbes Dutzend. Würden sie mir in dieser Nacht ausgehen, während ich auf der Jagd war, hätte ich noch die Pfeile und den Bogen, die mir, wenn ich Glück hatte, lediglich einen Vorsprung für die Flucht verschaffen, aber nicht die Blutsauger töten würden. „Ich brauche Nachschub“, sagte ich und lud die Pistole.
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