Offenbar verursacht der Druck auf den Pickel einen kleinen subkutanen Reiz, welcher wieder als Strom, aber diesmal in umgekehrter Richtung über den Nerv von der Haut zurück ins Gehirn wandert, von wo er ursprünglich herkam, und sich von dort über Dendriten und Axone der Nerven verzweigt und verästelt. So verbreitet es sich manchma lustvoll kribbelnd und prickelnd über ein ganzes Zellengewebe in seinem Kopf. Es ist gleichwie eine Art Mini- oder Mikroorgasmus, bei dem die Lust nicht durch die Entladung des ganzen Netzes, sondern nur durch den Blitz eines einzigen Nervs ausgelöst wird. Manchmal, wenn er an einem Pickel herumdrückt, spürt er es in einem ganzen Hirnteil knistern, so dass die dendritischen Verzweigungen, die zum Feuern des Hauptnervs führten, recht zahlreich gewesen sein müssen.
Sei dem neurologisch, wie immer es sei, jedenfalls ist die empfundene Lust eine sexuelle. Das ist der Grund, warum die Reizung einer solchen Stelle immer ein Lustgefühl verursacht, ansonsten die jungen Leute auch nicht ständig an ihren Pickeln herumfummeln würden. Man sieht sie nämlich immer an ihren Pickeln herumdrücken, so dass sie praktisch direkt in ihrem Gerhirn herumstochern und man ihnen in aller Öffentlichkeit beim Onanieren zusehen kann. Auch Betty fummelt auffällig oft so in ihrem Gesicht herum. Die Visage manch eines Zeitgenossen ist geradezu so etwas wie das Schlachtfeld seiner Sexualität, bei dem die inneren Explosionen ständig bis an die Peripherie durchschlagen … –
Auch Hanni muss das mit den suspekten Pickeln schon gemerkt haben, ansonsten sie nicht so anzüglich auf Schallmeyerns Nase herumreiten würde. Sie hat bei ihm etwas wiedergefunden, was sie von sich her gut genug kennt. Sieh an! das laszive Luder unterstellt ihre höchstpersönlichen Ekstasen auch bei dem zölibatären Pfaffen und ist so unverfroren, ihre Gesinnungsgenossen auch noch darauf hinzuweisen, wodurch sie ihren Prälaten gleichsam der Unzucht bezichtigt. Typisch Hanni! Harry, der sie genau dabei beobachtet, ist es um den Genossen Schallmeyer willen fast peinlich.
Dabei ist die kleine Denunziantin leider nicht willens, sich ein paar dieser Höhepunkte, die zu solch einer Lustschwäre führen, von Harry persönlich verschaffen zu lassen; wäre ihm doch nichts lieber, als ihr auf natürlichere Weise zu ein paar solcher authentischen Krater zu verhelfen! So kann er, als ihre Blicke sich zufällig treffen, nur so tun, als hätte er nichts von ihrem Intrigantentum gemerkt … –
Liebe! Sie ist die höchste und siegreichste aller Leidenschaften. Ihre weltbezwingende Stärke besteht aber in ihrer schrankenlosen Großmut, in ihrer fast übersinnlichen Uneigennützigkeit, in ihrer aufopferungssüchtigen Lebensverachtung. Für sie gibt es kein Gestern, und sie denkt an kein Morgen … Sie begehrt nur des heutigen Tages, aber diesen verlangt sie ganz, unverkürzt, unverkümmert … Sie will nichts davon aufsparen für die Zukunft und verschmäht die aufgewärmten Reste der Vergangenheit … „Vor mir Nacht, hinter mir Nacht“ ... Sie ist eine wandelnde Flamme zwischen zwei Finsternissen … Woher entsteht sie? … Aus unbegreiflich winzigen Fünkchen! … Wie endet sie? … Sie erlöscht spurlos, ebenso unbegreiflich … Je wilder sie brennt, desto früher erlöscht sie … Aber das hindert sie nicht, sich ihren lodernden Trieben ganz hinzugeben, als dauerte ewig dieses Feuer …
Unweit Hannis Wohnung liegt sein Schachverein, und einmal nimmt sie seine Abendeinladung dorthin an. Es ist eine große Sensation und steigert sein Ansehen aufs spektakulärste, als das junge blonde Gift abends zwischen den vergreisten Spielern umherstreicht, die dadurch, über ihren Brettern brütend, empfindlich in ihrer Konzentration gestört sind.
Zuerst versucht er, durch seine schulischen Erfolge bei ihr Eindruck zu machen. Aber Intelligenz scheint nicht sonderlich sexy. Auch für Poesie hat Hanni nicht allzu viel übrig. Als er merkt, dass sie letztlich nichts weiter von ihm will, ist er unendlich enttäuscht. Er leidet wie ein Hund und bewahrt sich nur mit Mühe sein jugendliches Selbstbewusstsein. Doch will er auch kein anderes Mädchen. Er spürt den bittereren Widersinn, der darin liegt, dass sie für die Treue, die er ihr hält, ihrerseits gar keinen Anlass gibt. So dass seine Treue sich gleichsam selbst ad absurdum führt. Dennoch hält er hartnäckig an ihr fest, so dass seine Leidenschaft nur ganz allmählich verebbt. Es bleibt eine Spur in Junge Leiden VIII aus dem Buch der Lieder :
Anfangs wollt ich fast verzagen,
Und ich glaubt, ich trüg es nie,
Und ich hab es doch getragen –
Aber fragt mich nur nicht, wie ...
Nun aber, wie sollte sie ihn auch lieben? Sie ist von ihrem Wesen her ja ganz anders geartet als er, wie also kann er erwarten, dass sie ihn liebt? Sie ist eine junge unbeschwerte Goi, ihrem Alter sichtlich voraus, er dagegen ein scheinloser melancholischer jüdischer Junge. Was sollte sie seiner schwermütigen Poesie abgewinnen? Anderseits liebt er sie aber gerade um ihres unbeschwerten Andersseins willen. Das ist jedoch ein Widerspruch: eine andere Person gerade deswegen zu lieben, weswegen sie einen selber gerade nicht lieben kann. Die Weichen sind falsch gestellt , sagt einmal sein Zeichenlehrer, als er ihm seinen Liebeskummer klagt. Man sollte sich also da, wo man nicht wieder geliebt wird, auch gar nicht erst selbst verlieben, denn ,Liebe' ohne Gegenliebe ist sowieso keine richtige Liebe.
Im Grunde ist es Eitelkeit, zu erwarten, dass man dort, wo man liebt, auch wiedergeliebt werden müsse. Erst viel später erkennt er: mehr Bescheidenheit tut not. Wir sollten uns mit der Liebe bescheiden, die uns auf natürliche Weise zukommt, nicht mehr und nicht minder. Dann würde man auch nicht mehr erwarten, als einem auf natürliche Weise zukommt; man würde nicht enttäuscht werden und nicht leiden müssen. Denn ent täuscht werden kann nur jemand, der sich zuvor selber, in seinen Erwartungen, ge täuscht hat.
Nun gut. Sagen Sie das aber einmal einem so jungen Gimpel und unerfahrenen Heißsporn wie dem jungen Harry, dem die Hormone schwappend gerade bis unter die Schädeldecke stehen! Es ist ganz klar, warum er zu dieser Bescheidenheit nicht imstande ist: Es ist seine glühende Sinnlichkeit, die ihn daran hindert. Es ist sein siedend heißes Blut, das ihn zur Liebe peitscht. Steht doch geschrieben, dass er von dem großen Übel, den Pocken des Herzens, stärker als andere Sterbliche heimgesucht werden sollte . Denn: Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andere mit ihren sämtlichen Gliedmaßen zeit ihres Lebens .
Er ist ein Blutzeuge der sprichwörtlichen Wendung Beauty is in the eye of the beholder – die Schönheit liegt im Auge des Betrachters: Es ist seine angeborene überstarke Sinnlichkeit, die durch Frauenschönheit geweckt und erregt wird, wobei es gar nicht so sehr darauf ankommt, wie die Frau in Wirklichkeit ist, als vielmehr darauf, an welche Seite seiner Sinnlichkeit sie appelliert – was seine sinnliche Einbildungskraft aus ihr macht . Denn da seiner ausbündigen Sensualität zugleich eine ebenso ausbündige erotische Phantasie entspricht, wird ihm der Anblick einer Frau zu einem allumfassenden Erlebnis, das ihn zur Gänze ergreift, in Wahrheit aber zuerst und vor allem der Ausdruck seiner eigenen Sinnlichkeit ist. Als seien seine eigenen Träume und Phantasien der Ursprung des Schaums, dem dann Aphrodite entsteigt.
Man könnte auch sagen, er liebt nicht die Frauen an sich, sondern viel eher sein eigenes Inbild von ihnen. Seinen eigenen Liebes-Wahn. Aber was ist der Unterschied, wenn doch die Liebe selbst schon eine Art Wahn? Diese Liebe ist ohne Glaube und ohne Treue, aber darum nicht minder wild und glühend ... Die Liebe ist immer eine Art Wahnsinn, mehr oder minder schön … Diese Liebe ist ein rasender Komet, der mit seinem Flammenschweif in den unerhörtesten Kreisläufen am Himmel dahinstürmt, alle Sterne auf seinem Wege erschreckt, wo nicht gar beschädigt, und endlich kläglich zusammenkrachend wie eine Rakete in tausend Funken zerstiebt .
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