Also nicht so ist es, dass wir uns in eine bestimmte Frau verlieben und sie unser sexuelles Verlangen weckt; sondern so, dass der angeborene Trieb psychologisch eine unbestimmte Sehnsucht weckt und wir nach einem Geschlechtspartner suchen, der uns gefällt. Haben wir ihn gefunden, hängen wir unser Verlangen an ihn und verlieben uns. So war es in seinem Traum: Die süße Sehnsucht nach der fremden Frau war die Wirkung seiner Sinnlichkeit. Die Frau, an die er sie hängte, war seine Liebe. Die Liebe ist die Projektion seiner Sinne. Sein Leben lang hat er solche Träume, noch bis zu Böses Geträume im Romanzero.
Seine erste Liebe ist Hanni. Klein, blond, lustig, sinnlich, mit dem goldgelben Schmelz der Dreizehnjährigen. Da ist er nicht älter als dreizehn oder vierzehn. In den Wangen hat sie ein Grübchen:
Dort jenes Grübchen wunderlieb
In wunderlieben Wangen.
Das ist die Grube, worein mich trieb
Wahnsinniges Verlangen.
Dort seh ich ein schönes Lockenhaar
Vom schönsten Köpfchen hangen;
Das sind die Netze wunderbar,
Womit mich der Böse gefangen.
Sie gehen beide in die Jugendgruppe der Gemeinde, die von dem katholischen Geistlichen Ägidius Schallmeyer geleitet wird. Einmal bei einem Ausflug mit der Gruppe beginnt es zu regnen, so dass er sie mit unter seinen Regenschirm nehmen darf. Sogar den Arm um ihre Schultern legen darf er. Er erinnert sich nicht, wohin der Weg ging, aber es ist einer der seligsten Augenblicke seines Lebens, als er im Regen mit ihr unter dem Schirm kauert und den Arm um sie legt, und er vergisst es nie im Leben. Es ist eine süße Lust der Seele. Er möchte sie gern küssen, aber eine jungfräuliche Scham hindert ihn. Er wartet darauf, dass sie ihm von sich aus entgegenkommt.
Sie kommt in die Gruppe zusammen mit ihrer Freundin Heidi, auf die sein Freund Christian spannt. Einmal holen sie sie beide mit ihren Laufrädern von ihrer Mittelschule ab. Harry findet es ganz in der Ordnung der Dinge, dass die Mädchen auf die Mittelschule gehen und sie beide aufs Lyzeum. Sie wohnt an einer äußerst belebten Straße in der Innenstadt im ersten Stock über einer Bank. Er möchte sie gern erobern. Manchmal steht er, auch wenn das nichts bringt, abends unter ihrem Haus und sieht zu der beleuchteten Wohnung hinauf, obwohl er nicht einmal weiß, welches ihr Zimmer ist.
Sie haben heut Abend Gesellschaft,
Und das Haus ist lichterfüllt.
Dort oben am hellen Fenster
Bewegt sich ein Schattenbild.
Du schaust mich nicht, im Dunkeln
Steh ich hier unten allein,
Noch weniger noch kannst du schauen
In mein dunkles Herz hinein.
Mein dunkles Herze liebt dich,
Es liebt dich und es bricht,
Und bricht und zuckt und verblutet,
Aber du siehst es nicht.
Vielleicht ist es vor allem ihre jungmädchenhafte Sinnlichkeit, die ihn anzieht, denn sie ist ein ungewöhnlich sinnliches Mädchen. Im Sommer sind sie einmal zu viert im Freibad am Düsselstrand, da sieht er ihren sexy Jungmädchenkörper im Badekostüm, wo er sie nicht anzufassen wagt. Er ist gehemmt, sie körperlich zu berühren, wenn sie nicht dieselben Gefühle für ihn hat wie er für sie. Nicht einmal Ich liebe dich kann er ihr sagen, solange nicht auch sie ihn liebt. Ist es männlicher Stolz, der ihn daran hindert? die heimliche Gewissheit, dass es sinnlos ist, solange sie ihm nicht entgegenkommt? oder eine innere Hemmung, sich ihr ganz hinzugeben? Er kann sich ihr nicht ganz hingeben, solange es keine völlige seelische Gemeinschaft ist.
Was ist die Liebe? Jetzt ist es ganz einfach: Seine Liebe ist Hanni. Die Frage ist aber: Wird dasselbe süße Verlangen, das er nach ihr hat, auch in sie für ihn überströmen?
Nein, es strömt nicht in sie über. Hanni kommt ihm nicht entgegen. Seine Zärtlichkeit für sie muss einseitig bleiben. Offenbar ist die Liebe nicht so symmetrisch, dass wir von dem, den wir lieben, immer auch wiedergeliebt werden. Das wird zur Grunderfahrung seines Lebens: Altes Stück: Sie war liebenswürdig, und er liebte sie; er aber war nicht liebenswürdig, und sie liebte ihn nicht. Nicht er ist es, an den sich Hannis Verlangen heftet. Die junge Hanni ist frühreif und hält es schon mit älteren Jungs. Er sieht sie wiederholt mit einem solchen im Gras an einem kleinen Hügel am Rande des Sommerbads, am Zaun in ziemlichem Abstand von der Menge, wie wenn sie absichtlich unter sich sein wollten. Er sieht sie so eng aneinander geschmiegt und poussierend, dass es eine Schande ist. Er wollte, er wäre der andre.
Madame, kennen Sie das alte Stück? Es ist ein ganz außerordentliches Stück, nur etwas zu sehr melancholisch. Ich hab mal die Hauptrolle darin gespielt, und da weinten alle Damen, nur eine einzige weinte nicht, nicht eine einzige Träne weinte sie, und das war eben die Pointe des Stücks, die eigentliche Katastrophe –
Madame! Das alte Stück ist eine Tragödie, obschon der Held darin weder ermordet wird, noch sich selbst ermordet. Die Augen der Heldin sind schön, sehr schön – Madame, riechen Sie nicht Veilchenduft? – sehr schön und doch so scharfgeschliffen, dass sie mir wie gläserne Dolche durch das Herz drangen und gewiss an meinem Rücken wieder herausguckten – aber ich starb doch nicht an diesen meuchelmörderischen Augen. Die Stimme der Heldin ist auch schön – Madame, hörten Sie nicht eben eine Nachtigall schlagen? – eine schöne, seidne Stimme, ein süßes Gespinst der sonnigsten Töne, und meine Seele ward darin verstrickt und würgte sich und quälte sich … –
Um die vierzehn geht etwas mit ihm vor, etwas höchst Seltsames und Bedenkliches, das ihn nicht mehr loslässt und zu einem Teil seines Daseins wird. Er sitzt mit aufgestellten Knien in dem hölzernen Zuber, in dem er am Wochenende badet, den ihm Betty hat einlaufen lassen, und beobachtet sein unter Wasser wie eine im Grund verankerte Alge zwischen den Beinen treibendes Geschlechtsteil. Apropos Geschlechtsteil, denkt er später so ähnlich wie Walser über Goethe in Karlsbad: Dass das Teil in der Sprache, in der das Leben doch erst zu sich selber kommt, nicht erscheinen darf, es sei denn lateinisch oder verballhornt, ist eine Schande. Sag ruhig: eine Kulturschande. Zu deren Überwindung hast du nichts getan . Das soll man ihm Heine, nicht vorwerfen können!
Er denkt an Hanni, die er beim Baden mit dem fremden Jungen sah. Da glimmt in seinen Lenden unter Wasser ein kleiner Reiz, ein kleines Flämmchen auf. Es ist nur eine winzige Regung, ein leichtes Jucken in seiner verankerten Alge, aber mit einer Art Lust, wie er sie seit seiner Kindheit kennt, nur auf einmal noch stärker. Er denkt an Hanni und ihre weibliche Sanduhrform, wie schön ihr jungmädchenhafter Bauch am Nabel sich rundet und unterm knappen Oberteil ihre jungen und doch schon gerundeten Brüste sich wölben – und wieder das Unterwasserflämmchen in seinen Lenden. Bestimmt haben ihre Eltern keinen blassen Schimmer davon, und dürfen es auch gar nicht haben, wie spärlich bekleidet und frei sie im Freibad ist. Das Unterteil ist so knapp, dass man deutlich die gewölbte Stelle in ihrem Schoß sieht, die man den Hügel der Venus, Mons veneris , Schamhügel nennt. Auch wenn es bei Hanni eher noch ein kleines Hügelchen ist. Als er klein war, stellte er sich vor, dass das weibliche Geschlecht auf der Kuppe dieses Hügels vorn unterhalb des Bauches sei, und brachte erst mit der Zeit heraus, dass es in Wahrheit ziemlich weit unterhalb davon, ganz am Fuße des Hühels mitten zwischen den Beinen liegt. Auf dem Mons pubis selber sprießt nur ihr flaumiges Schamhaar, jungfräulich schwarz oder dunkel wie bei ihm, vielleicht aber auch heller, da sie ja eine Blondine ist.
Bei dieser Vorstellung verstärkt sich das Jucken in seinem Schoß, so dass er unwillkürlich mit der Hand nach seinem treibenden Mannesteil greift. Sein flottierendes Mannesteil ist, da er jüdischen Stammes, beschnitten, so dass das Vorderteil: die Eichel, ohne Vorhaut frei wie ein Fischkopf im Wasser treibt. Es ist ein altehrwürdiger jüdischer Brauch, die so genannte Brit Mila , dass die Vorhaut des männlichen Gliedes entfernt werden muss. Das Gebot ist so stammeseigentümlich, dass es sogar von den meisten säkularen Juden befolgt wird. Die Brit Mila gilt als Aufnahme eines männlichen Nachkommen in den Bund, den bekanntlich Gott mit Abraham schloss: Das ist mein Bund zwischen mir und euch , so in der Genesis, samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen. Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden .
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