Wolfram Hänel
Der Junge,
der mit Jimi Hendrix tanzte
Eine Jugend in den siebziger Jahren
Roman
Unveränderte Wiederauflage
© der Originalausgabe: 2009 Ullstein Taschenbuch, Ullstein
Buchverlage GmbH · Berlin
© 2021 Literanover by zu Klampen Verlag · Röse 21 ·
31832 Springe · www.zuklampen.de
Umschlaggestaltung: © Stefan Hilden unter Verwendung von Motiven von www.shutterstock.comund von Wolfram Hänel (Foto) · München · www.hildendesign.de
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt
ISBN Printausgabe 978-3-86674-788-3
ISBN E-Book-Pdf 978-3-86674-894-1
ISBN E-Book-Epub 978-3-86674-895-8
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.dnb.de› abrufbar.
Für U. und H.,
wie immer.
Zur freundlichen Kenntnisnahme
durch den aufmerksamen Leser:
Alle Personen und Handlungen in diesem Roman
sind frei erfunden -
bis auf die, die gar nicht erst erfunden
werden mussten,
weil sie ohnehin schon unglaublich genug sind!
Allerdings möchte der Autor betonen,
dass er nie zu einem Abiturtreffen eingeladen war.
Demzufolge hat er auch nie bei einem solchen Anlass
seinen ehemaligen Klassenlehrer wiedergetroffen.
Und er hat auch nicht die leiseste Ahnung,
wie ein solches Treffen wohl ablaufen könnte -
die entsprechenden Szenen sind also vollständig
seiner schriftstellerischen Phantasie entsprungen.
Aussagen, die im Dialog gemacht werden,
geben im Übrigen nicht unbedingt
die Meinung des Autors wieder.
»Köpfe abschlagen ist nicht sehr klug.
Die Stecknadel, der man den Kopf abschlug,
fand, der Kopf sei völlig entbehrlich,
und war nun vorn und hinten gefährlich.«
Erich Kästner
Als Appaz den Mann mit dem Beil im Kopf sieht, ist es kurz nach ein Uhr nachts. Und natürlich hat Appaz zu-viel getrunken und verflucht jetzt jedes einzelne Bier des Abends. Bis auf die ersten zwei oder drei vielleicht, als noch alles in Ordnung war und er sich köstlich über die Geschichte amüsierte, die Kerschkamp gerade zum Besten gab. Wie er, Kerschkamp, beim Zahnarzt im Wartezimmer gesessen und eher zufällig einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, wo in eben diesem Moment ein Mann die Straße überquerte, mit einer Aufblaspuppe von Beate Uhse unter dem Arm, und zielstrebig die Tankstelle auf der gegenüberliegenden Seite ansteuerte. Um dann in aller Ruhe mit dem Reifenprüfgerät neue Luft in seine Puppe zu füllen, bis sie wieder prall und glatt war!
Die Geschichte ist gut gewesen, und Appaz hat noch gedacht, dass sie vielleicht als Anfang für einen Roman taugen könnte. Aber jetzt zweifelt er einen Moment lang daran, ob er jemals wieder einen Roman schreiben wird. Vielleicht landet er eher im nächsten Landeskrankenhaus in der geschlossenen Abteilung, wo er dann für den Rest seines Lebens weiße Mäuse zählt. Oder was auch immer ihm sein fortschreitendes Delirium sonst an Bildern vorgaukeln wird. Wenn das hier alles nicht wahr ist, denkt er noch, und ich hoffe, dass es nicht wahr ist, dann werde ich nie wieder einen Tropfen Alkohol anrühren, das schwöre ich bei allen Aufblaspuppen dieser Welt. Und ich werde den Teufel tun und irgendjemandem erzählen, dass ich tatsächlich für einen Moment geglaubt habe, nachts um kurz nach eins auf dem Weg zur U-Bahn einen Typen mit einem Beil im Kopf zu sehen.
Aber auch als er die Augen fest zusammenkneift und gleich darauf wieder aufreißt, hat sich die Szenerie nicht verändert. Der Kerl ist immer noch da, und das Beil steckt immer noch in seinem Kopf. Das Bild ist verdammt echt. Ein alter Mann, das erkennt Appaz jetzt ganz deutlich, die Schultern der Jacke dunkel vom Nieselregen, die nackten Füße in den ausgelatschten Filzpantoffeln unter der Schlafanzughose käsig weiß. Ein dünner Blutfaden zeichnet eine verschwommene Linie von der Stirn bis zum Kinn.
Das Beil wirkt wie ein schlechter Witz, aber es ist ohne jeden Zweifel da.
Appaz blickt sich um. Irgendwie hat er die vage Hoffnung, dass vielleicht Kerschkamp mit seinem Fahrrad noch mal umgedreht hat und jetzt zurückkommt, um ihm zu versichern, dass auch er den Alten mit dem Beil sieht. Aber Kerschkamp ist und bleibt verschwunden. Und auch sonst ist niemand zu sehen. Nur eine tote Taube liegt mit verdrehtem Hals im Rinnstein. Zögernd macht Appaz einen Schritt auf den Alten zu. Der Alte hebt die Hand, als wollte er winken. Irgendwo bellt ein Hund.
Der Hund hat schon vorher gebellt, daran kann sich Appaz erinnern. Aber vielleicht ist das auch ein anderer Hund gewesen, denkt er jetzt. Ich muss mich bemühen, dass ich nicht alles durcheinanderbringe. Es gibt mehr Hunde als nur einen. Und ein bellender Hund ist kein Beweis dafür, dass ich noch richtig ticke. Oder dass ich wirklich mit Kerschkamp in der Kneipe war. Obwohl es ihm andererseits keine Schwierigkeiten macht, sich den Ablauf des Abends ins Gedächtnis zu rufen. Wenn es denn so gewesen ist…
Sie haben wie üblich in ihrer Ecke neben dem Flipper gehockt, der schon außer Betrieb ist, seit Appaz sich mit Kerschkamp am ersten Freitag jeden Monats im »Voss« trifft. Und wie üblich war das Voss wieder brechend voll, nicht zum ersten Mal hat Appaz vorgeschlagen, dass sie sich vielleicht an einem anderen Tag treffen sollten. Aber Kerschkamp hat auf dem vor Jahren eher zufällig entstandenen Termin beharrt, als würde jede Veränderung den Bruch mit ehernen Prinzipien bedeuten.
»Wir brauchen irgendeine Konstante, kapierst du?«, hat Kerschkamp erklärt. »Irgendwas, was nicht in Frage gestellt werden kann, sonst geht alles den Bach runter. Und außerdem ist es auch einfacher so, Susanne hat sich dran gewöhnt und ich muss nicht jedes Mal neu diskutieren, ob es gerade passt oder nicht. Der Termin steht, und sie weiß, dass sie mir da gar nicht erst mit irgendwas Anderem zu kommen braucht.«
Susanne ist Kerschkamps Frau und bis auf das eine oder andere belanglose Gespräch bei irgendeiner Geburtstagsfeier kennt Appaz sie kaum. Im Stillen mutmaßt er ohnehin, dass Susanne nicht gerade begeistert ist von der Freundschaft zwischen ihm und Kerschkamp, wahrscheinlich hat sie Sorge, dass sein Einfluss Kerschkamp nicht unbedingt guttut. Aber wie auch immer sich Kerschkamp mit Susanne arrangiert, ist nicht Appaz’ Sache. Er ist sowieso der Letzte, der sich ein Urteil anmaßen kann, wenn es um Beziehungen geht, nicht umsonst lebt er jetzt schon seit bald drei Jahren wieder alleine.
Er und Kerschkamp haben jedenfalls ziemlich schnell hintereinander die ersten paar Bier getrunken, dann hat Kerschkamp sich »einmal Curry-Pommes« bestellt. Appaz hat keinen Appetit gehabt, obwohl das Voss für seine Currywurst berühmt ist. Sogar der Ex-Kanzler ist für diese Currywurst früher ins Voss gekommen, noch zu seinen Juso-Zeiten, böse Zungen behaupten, dass von damals auch seine Abneigung gegen Lehrer rührt. Der Ex-Kanzler kommt jetzt nicht mehr, die Lehrer sind geblieben. Genauso wie die Dozenten, Ärzte und Anwälte, die den Stadtteil schon für sich entdeckt haben, als die Fünf- und Sechszimmerwohnungen in den ehemals hochherrschaftlichen Häusern aus der Jahrhundertwende auch für Wohngemeinschaften noch bezahlbar waren. Geblieben ist auch die Einrichtung, die, wenn überhaupt, das letzte Mal renoviert worden ist, lange bevor der Ex-Kanzler hier seine erste Currywurst bekommen hat. Und genauso geblieben ist der barsche Umgangston, mit dem die Bedienung jedem, der nicht zu den Stammgästen gehört, seinen Platz an einem der langen Holztische zuweist, ohne irgendeinen Widerspruch zu dulden. Geduzt werden ohnehin alle, und wer es aus Mangel an Erfahrung nicht besser weiß und sein Bier am Tisch bezahlen will, wird unwirsch mit den Strichen auf dem Deckel zur Theke geschickt. Ein zweites Mal jedenfalls begeht keiner diesen Fauxpas. Seit kurzem hängt hinter der Theke eine Urkunde, die die Kneipe laut dem Londoner Guardian als »one of the best bars in Europe« ausweist: »A typical German pub with local beer and delicious pub classics such as Currywurst.«
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