Manchmal hatte sie sich schon dabei ertappt, wie sie IHN einfach nur minutenlang angestarrt und sich dabei ein immer größer werdendes warmes Gefühl in ihr ausgebreitet hatte. Doch ebenso wusste sie, dass diese Schwärmerei sehr gefährlich werden konnte. Allein, wenn er sie aufrief, eine Frage zu beantworten, bekam sie eine Gänsehaut, es lief ihr eiskalt den Rücken runter und sie hatte das Gefühl, hochrot anzulaufen – von dem Gestammel, das sie dabei nicht selten von sich gab, ganz zu schweigen. Sie musste diese immer größer werdenden Gefühle IHM gegenüber schnellstmöglich in den Griff bekommen. Aber wie nur?
Dann zeichnete sich endlich ein Lichtblick am Horizont ab. Die zweite Woche dieses Schuljahres war fast vorbei, als Herr Hongo sie in die Eishalle bestellte. »Es wird Zeit, dass wir dich wieder eislauftüchtig bekommen, oder? Also zieh dich schnell um!«
Dies ließ sich das junge Mädchen nicht zweimal sagen. Schnell wie der Blitz schlüpfte sie in ihre Schlittschuhe und trat voller Vorfreude vor die Eisfläche.
»Fangen wir zunächst mal mit ein paar Runden an. Wollen wir doch mal sehen, wie du dich auf dem Eis machst. Also, nichts überstürzen!«
Vorsichtig stellte sie erst den einen, dann den anderen Fuß auf die glitzernde Eisbahn, atmete tief durch und stieß sich leicht von der Reling ab. Dieses Gefühl war einfach unbeschreiblich, ihr gesamter Körper fing an zu kribbeln und sie fühlte sich einfach nur noch glücklich, so glücklich, dass sie für einen Moment lang alles um sich herum vergaß und ihr beinahe die Tränen kamen. Fast konnte sie die Musik hören, zu der sie bei ihrem letzten Turnier gelaufen war, setzte einen Fuß vor den anderen und glitt sanft über die Oberfläche. Sie fühlte sich frei, einfach so wunderbar frei und unbeschwert.
»Sehr gut, sehr gut. Dein Gleichgewicht hast du also noch. Das wird vieles leichter machen«, lächelte ihr Hongo entgegen, der sie mit seinen Worten aus ihrer Traumwelt gerissen hatte.
»Für heute lassen wir es dann auch mal gut sein. Ruh dich etwas aus, ab morgen wird es dann etwas stressiger.«
Irritiert, weil sie doch nicht mehr als zehn Minuten gelaufen war, wollte Jana protestieren, als ihr Blick auf die Uhr fiel und sie überrascht feststellte, dass bereits über eine Stunde vergangen war. Sie hatte komplett das Zeitgefühl verloren.
Nur wenige Minuten später saß sie wieder in ihrem Zimmer auf der Fensterbank, einem ihrer Lieblingsplätze, und schaute in den bereits sternenbehangenen Himmel. Heute war sie das erste Mal seit dem Unfall wieder glücklich gewesen und das machte sie auch irgendwie traurig. Durfte sie denn nach all dem überhaupt wieder glücklich sein?
Auch wenn dieser Gedanke an ihr hing wie ein dunkler Schatten, genoss sie von nun an jede Minute, die sie auf dem Eis verbringen durfte. In den ersten Stunden sollte sie lediglich leichte und unkomplizierte Schrittfolgen laufen, doch nach und nach wurde nicht nur Hongos Tempo höher, sondern auch seine Anforderungen. Er ließ ihr kaum Zeit zu verschnaufen. Wenn er so auch im normalen Unterricht agierte, konnten die nächsten Jahre noch recht lustig werden.
Nachdem sie die gefühlte fünfhundertste Pirouette endlich gestanden und danach einen Schluck Wasser getrunken hatte, rief Herr Hongo: »So und jetzt Schluss mit dem Kinderkram, so kommen wir nie weiter. Jetzt will ich einen Axel sehen. Los!«
Konnte sie ihren Ohren trauen? Sollte sie sich tatsächlich schon in einem Sprung versuchen, und dann ausgerechnet am schwierigsten? Mit einem tiefen Seufzer setzte sie an und lief sich ein paar Runden ein, nicht nur, um in der richtigen Position zu starten, sondern auch, um sich die genaue Reihenfolge wieder ins Gedächtnis zu rufen: Einlaufen rückwärts auf dem rechten Fuß, Absprung vorwärts–auswärts auf dem linken, Drehung, Landung rückwärts–auswärts auf dem rechten Fuß . Noch vor wenigen Monaten war dieser Sprung einer ihrer liebsten gewesen, sie konnte ihn im Schlaf oder mit verbundenen Augen auch als doppelten stehen, doch jetzt, nur wenige Wochen nach dem Unfall, bei dem sie sich das rechte Bein gebrochen hatte, bekam sie Panik, die sich rasch in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Was, wenn ihr Bein das noch nicht aushielt? Was, wenn sie unglücklich aufkäme und es wieder brechen würde? War sie wirklich schon so weit, dieses Risiko einzugehen?
»Na los, worauf wartest du noch!«, rief Hongo ihr zu und riss sie aus ihren Gedanken.
Sie holte tief Luft, versuchte sich zu konzentrieren und versuchte es noch einmal. Alles funktionierte so gut wie zuvor; sie glitt in Ausgangsposition, setzte in die Vorwärtsrichtung um, verlagerte dabei den Druck auf die Vorwärts–Auswärts–Kante und holte kräftig mit den Armen aus, bereit für den Absprung. Doch noch bevor sie auch nur einen Millimeter vom Eis abhob, rammte sie die Kufen beider Schlittschuhe so fest in die Eisfläche, dass sie abrupt zum Stehen kam und tiefe Spuren hinterließ.
Irritiert rief ihr der Lehrer zu: »Was auch immer das gerade werden sollte, ein Axel war es jedenfalls nicht. Reiß dich ein wenig zusammen und auf ein Neues!«
Doch bevor sie widersprechen oder für einen neuen Versuch ansetzen konnte, klingelte zu ihrer großen Erleichterung die Eieruhr, die die heutige Stunde beendete.
»Na gut, ok, dann machen wir eben morgen weiter, aber dann will ich einen perfekten Axel sehen!«
Morgen, oh nein, wie soll ich das nur schaffen?
* * *
Der nächste Tag kam schneller, als ihr lieb war. Erst Mathematikunterricht bei Ralf Maier, dann noch Sport bei und mit ihm; ihr Herz hatte alleine schon in diesen Stunden gefühlte einhundert Aussetzer, wenn sich ihre Blicke trafen; und dann auch noch Physio und Einzeltraining bei Hongo. Wie sollte sie diesen Tag nur überstehen? Schon bei dem Gedanken, dass er heute einen Sprung von ihr sehen wollte, erschauerte sie, was sie verunsicherte und sich dann auch deutlich in ihren Leistungen widerspiegelte.
»Stopp, stopp, stopp, stopp, stopp! Was zum Teufel ist den heute nur mit dir los? Du stellst dich an, als wäre das hier deine erste Eislaufstunde«, rief Hongo dann auch bei ihren ersten jämmerlichen Versuchen. »Jetzt schüttle einfach mal alle Gedanken ab und konzentriere dich auf das, was du machen sollst! Mach deinen Kopf frei und dann noch mal von vorne!«
Doch so einfach war das nicht, Jana verkrampfte nur noch mehr, sodass der Lehrer keine zehn Minuten später das Training beendete. Zu ihrer großen Verwunderung – eigentlich hatte sie mit einer gehörigen Standpauke gerechnet –, stellte er keine Fragen, sondern ließ sie nur mit den Worten »Bis morgen« alleine in der Halle zurück.
War das eben Enttäuschung in seinem Blick gewesen, oder hatte sie sich das nur eingebildet? Jetzt, da sie alleine war, kam sie sich albern und dumm vor. Nicht nur er schien von ihr enttäuscht zu sein, sie war enttäuscht von sich selbst.
Langsam glitt sie zurück zur Reling, doch bevor sie vom Eis ging, drehte sie sich noch einmal um und blickte zurück.
Vielleicht ist es besser, wenn ich mir einen neuen Traum suche und von ganz vorne anfange.
In dieser Nacht fand sie keine Minute Schlaf, wälzte sich hin und her und versuchte, sich klar zu werden, was sie eigentlich wollte. Doch sie kam zu keinem endgültigen Entschluss, selbst in dem Moment nicht, als sie sich am nächsten Morgen auf den Weg zu Herrn Hongos Büro machte. Sie wusste nur, dass es so wie im Moment nicht weitergehen konnte. Vorsichtig klopfte sie an seine Tür, doch nichts geschah. Sie lauschte einen Moment und klopfte ein weiteres Mal, dieses Mal kräftiger und lauter. Wieder nichts …
Dann versuche ich es eben später noch mal , überlegte sie und wollte gerade gehen, als sich etwas weiter hinten im Flur eine Tür öffnete und eine Traube Lehrer auf den Flur traten.
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