Also fing die Büffelei an. Da außer ihr lediglich drei oder vier Mädchen im Internat geblieben waren, hatte sie genug Ruhe, egal ob sie in der Bibliothek oder im Computerraum saß. An den Tagen, an denen es nicht so übermäßig warm war, saß sie draußen auf einer Bank vor dem Gebäude, im Schatten einer großen Trauerweide, genoss die frische Luft und die Sonnenstrahlen, und war vertieft in ›Die Leiden des jungen Werther‹.
* * *
In der zweiten Augustwoche, am vierzehnten, kam schließlich der Tag, den sie schon so lange herbeigesehnt hatte, denn endlich wurde sie von dem Gips befreit, den sie so sehr hasste. Doch um einen Stützverband und die ausdrückliche Anweisung, das Bein noch mindestens zwei Wochen lang zu schonen, kam sie nicht herum. Und danach würde sie sich noch auf etliche Stunden Physiotherapie einstellen müssen. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass sie noch lange nicht aufs Eis durfte. Und dabei war der Gedanke daran und die Vorfreude darauf, das Einzige, das ihr im Moment die Kraft gab, weiterzumachen.
Enttäuscht machte sie sich, kaum dass sie zurück in der Schule war, wieder an die Arbeit. Wirklich konzentrieren konnte sie sich aber beim besten Willen nicht, die Wörter in dem Buch ergaben heute überhaupt keinen Sinn. Nachdem mehr als eine Stunde vergangen war, ohne dass sie auch nur eine Seite gelesen hatte, sich jetzt auch noch der Himmel zuzog und es urplötzlich anfing zu regnen, beschloss sie, es für heute einfach sein zu lassen. Mit dem Buch unterm Arm und den Krücken in der Hand, humpelte sie schnell Richtung Eingangstür – nur noch drei Stufen lagen vor ihr, gleich war sie im Trockenen. Doch dann passierte es; sie rutschte auf der, durch den Regen glitschigen Stufe aus und verlor den Halt.
Und dabei ist der Gips gerade erst ab, dachte sie noch verzweifelt und schloss die Augen.
Alles geschah wie in Zeitlupe, doch ehe sie die Treppe hinabstürzen konnte, wurde sie von jemandem aufgefangen.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
Zögernd öffnete sie die Augen und blickte in die wunderschönsten und bezauberndsten blauen Augen, die sie in ihrem Leben je gesehen hatte. Kalte und warme Schauer liefen ihr gleichzeitig den Rücken hinunter, ihr Herzschlag beschleunigte sich und die winzig kleinen Härchen in ihrem Nacken und auf den Armen schienen Kilometer hoch zu Berge zu stehen, doch konnte sie ihren Blick nicht abwenden, brachte nicht mal ein Wort hervor; ihre Kehle schien wie zugeschnürt.
Diese blauen Augen gehörten zu einem umwerfend gutaussehenden jungen Mann mit kurzen dunklen Haaren, den Jana auf Mitte zwanzig schätzte. Sowohl sein Sakko als auch sein weißes Hemd waren durch den Regen ganz durchnässt und schmiegten sich wie eine zweite Haut auf seinen gut durchtrainierten Körper.
»Du musst wirklich etwas vorsichtiger sein! Es hätte ja sonst was passieren können«, meinte dieser junge Mann mit einem Lächeln, während er ihr Buch und Krücken zurückgab, welche zu Boden gefallen waren. »Jetzt aber schnell rein, bevor uns der Regen noch wegspült.«
Kaum hatten die beiden die Türschwelle übertreten, verabschiedete er sich und verschwand hinter der nächsten Biegung, bevor Jana sich auch nur bei ihm bedanken konnte. Oh mein Gott, ist der süß, und ich bin einfach nur dämlich , dachte sie, während sie noch immer wie angewurzelt dastand und ihm nachschaute.
Erst Minuten später kam sie wieder zur Besinnung und machte sich auf den Weg in ihr Zimmer, doch egal was sie auch in den nächsten Tagen versuchte, sie konnte diese blauen, diese wundervollen blauen Augen einfach nicht mehr aus ihrem Kopf bekommen.
* * *
Im Laufe der nächsten beiden Wochen kehrten mehr und mehr Schülerinnen ins Internat zurück, zunehmend wurde es lauter und hektischer. Das letzte Wochenende vor dem Schuljahresbeginn zum ersten September, nutzten viele, um ausgelassen durch die Natur und das Städtchen zu spazieren. Jana, die einfach noch keinen Kontakt zu anderen wollte, verkroch sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Mittlerweile konnte sie die verhassten Krücken beiseite lassen, doch zu ihrem großen Kummer durfte sie noch immer nicht aufs Eis, da es angeblich zu gefährlich sei. Wehmütig stand sie also nur am Eis, betrachtete die glitzernde Oberfläche und dachte, mal wieder, an ihre Vergangenheit. War es denn zu viel verlangt, einfach wieder glücklich zu sein?
So in Gedanken vertieft, bemerkte sie gar nicht, dass mittlerweile zwei weitere Mädchen die große Halle betreten hatten und sie aus der Entfernung anstarrten. Doch die Akustik in der Halle war wirklich erstaunlich. Als die beiden anfingen zu tuscheln, wurde sich Jana ihrer Gegenwart gewahr.
»Die kenn ich doch«, hörte sie die eine sagen. »Die hat doch bei der NRW–Juniorenmeisterschaft den dritten Platz belegt.«
»Ach was, red doch keinen Stuss!«
»Nein, wirklich, schau sie dir doch an! Das ist sie bestimmt! Aber was will die hier?«
Jana wollte sich nicht länger anstarren lassen und lief peinlich berührt davon.
Dann war es schließlich so weit, das Wochenende und somit auch die Sommerferien waren vorbei und das neue Schuljahr sollte beginnen. Ein weiterer Schritt in ihrem neuen Leben. Bereits um sechs Uhr morgens war Jana auf den Beinen, die halbe Nacht über hatte sie kein Auge zumachen können vor lauter Aufregung, und auch jetzt fühlte sie sich nicht viel ruhiger. Da sie weder wusste, wohin sie sollte oder was auf sie zukommen würde, stand sie eine Stunde später vor der Tür des Direktors, der ihr, genauso hektisch, nur schnell mitteilte, dass sie sich in den Unterrichtsraum K10 begeben sollte.
Irritiert und allein gelassen machte sie sich also auf den Weg. In nicht einmal zwanzig Minuten sollte der Unterricht beginnen, weshalb sich schon einige Mädchen in dem Klassenzimmer aufhielten, vor dem sie nun eintraf. Doch so sehr es Jana auch wollte, sie konnte sich nicht zu ihnen begeben. Wie erstarrt stand sie im Flur und starrte Löcher in die Luft. Die Minuten wollten einfach nicht vergehen, ihr kam es so vor, als ob sie schon seit einer Ewigkeit so dastünde, als plötzlich jemand ihren Arm packte und rief: »Na komm schon, oder willst du schon am ersten Tag eine Strafe aufgebrummt bekommen, wenn dich ein Lehrer nach Unterrichtsbeginn noch hier stehen sieht?«
»Aber es sind doch noch mindestens fünf Minuten, bis …«, versuchte sich das junge Mädchen zu verteidigen, doch ließ ihre blonde Mitschülerin sie gar nicht erst zu Wort kommen.
»Ach papperlapapp, du wirst mir noch dankbar sein.« Sie zog Jana in den Raum, führte sie an einen Tisch und sagte: »Setz dich am besten hier hin!«
Verunsichert schaute Jana abwechselnd von dem Platz, dem Fensterplatz ganz vorn in der ersten Reihe, zu dem Mädchen, entschied sich aber weiter nichts dazu zu sagen und packte lieber ihre Schultasche aus. Gerade hatte sie ihren Terminplaner in der Hand, als die Blonde wieder zu ihr kam, sie dieses Mal von oben bis unten musterte, bis sie schließlich fragte: »Ist es wahr, was die anderen sagen?«
»Und was wäre das?«
»Die meinten, dass du dieses Jahr den dritten Platz bei den NRW–Juniorenmeisterschaften gewonnen hast. Stimmt das?«
Bevor sie allerdings auch nur einen Piepser von sich geben konnte, betrat ein Mann das Klassenzimmer und begrüßte die Schüler. Jana starrte ihn an, ließ das Buch fallen und traute ihren Augen nicht. Vor ihr stand doch tatsächlich dieser gut aussehende Mann, der ihr noch vor ein paar Tagen geholfen hatte. Konnte das wirklich sein oder träumte sie nur?
Wie angewurzelt stand sie auf ihrem Platz und blickte IHN an. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was ER hier zu suchen hatte, doch die Antwort darauf ließ nicht lange auf sich warten, denn genau in diesem Moment betrat auch Herr Hongo das Klassenzimmer und richtete sich an die verdutzt aussehenden Schülerinnen: »Ich darf euch mit großer Freude euren neuen Mathematik–, Sport– und Klassenlehrer Herrn Ralf Maier vorstellen!«
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