Mit ihren großen, leuchtend grünen Augen sah sie ihren neuen Lehrer an und meinte schließlich nur: »Gibt es für das Internat auch einen Lageplan, damit ich mich nicht verlaufe?«
»Da brauchst du absolut keine Angst zu haben. Frag einfach jemanden nach dem Weg, wenn du dich nicht zurechtfindest. Und jetzt lass uns reingehen!«
Vorsichtig stieg Jana die große Steintreppe empor. Als sie nach sechs Stufen oben angekommen war, schloss sie ihre Augen und atmete noch einmal tief durch, bevor sie das neue und unbekannte Gebäude betrat. Das war schließlich der erste Schritt in ihr neues Leben.
»Ich bringe dich jetzt erst einmal auf dein Zimmer und dann kannst du dich ein wenig ausruhen, Einverstanden?«, fragte Herr Hongo in entstandene Stille hinein.
Dies war ihr mehr als recht, da sie von dieser langen und anstrengenden Fahrt doch recht müde war.
Während die beiden den Gang zum Fahrstuhl entlang liefen, meinte der Lehrer: »Du hast Glück. Letzte Woche haben die Sommerferien begonnen und fast alle Schülerinnen sind zu Hause bei ihren Eltern. Somit hast du viel Ruhe und kannst dich erst einmal einleben und erholen. Du kannst essen, wann du willst – in der Küche gibt es immer was – und auch ansonsten tun und lassen, was du möchtest.«
»Aber ich dachte, dass in den Sommerferien die Schulen und Internate geschlossen sind.«
»Normalerweise ist das auch der Fall, aber diese Schule wird auch von mehreren Schülerinnen besucht, deren Eltern im Ausland arbeiten und daher nur wenig für ihre Kinder da sein können. Und damit gerade diese Mädchen auch in den Ferien eine Betreuung haben, bleibt das Internat geöffnet. Weihnachten und Ostern bleiben mal mehr und mal weniger hier. Du brauchst absolut keine Angst haben, hier wird immer jemand sein!«
»Und was ist mit den Lehrern?«
»Einige der Lehrer bleiben, andere fahren in den Ferien nach Hause. Aber lass dir das später von deinen Mitschülerinnen erklären! Die wissen darüber mehr als ich. Du wirst schon sehen! Schau, wir sind da!«
Genau im diesem Moment blieb er vor dem Zimmer mit der Aufschrift ›S22‹ stehen und öffnete die Tür.
Im ersten Moment konnte Jana nicht viel von dem Raum sehen, da man von der Tür aus nur auf eine weitere Wand blickte. Auf der linken Seite befand sich die Tür zu dem Badezimmer und auf der rechten eine kleine Sitzecke mit einem Tisch und zwei Stühlen. Man musste um die Wand herumgehen, dann konnte man die beiden Betten und die dazugehörenden Kleiderschränke sehen.
»Und was meinst du? Gefällt dir dein neues Zimmer?«
»Ich hätte es mir niemals so groß vorgestellt. Es ist wirklich schön hier.«
»Es freut mich, dass es dir gefällt. Ruh dich jetzt ein wenig aus! Und wenn du Fragen hast, dann komm ruhig zu mir.«
Danach verließ Herr Hongo das Zimmer und ließ sie allein. So viel Neues prasselte gerade auf sie ein, dass ihr der Kopf schwirrte. Sie war müde und ausgelaugt, zudem drückte der Gips durch die viele Lauferei ganz schön, also setzte sie sich auf ihr neues Bett.
Je länger sie so alleine da saß, desto schlechter und einsamer fühlte sie sich. Sie hatte keine Ahnung, was sie hier alles erwarten würde. Und wieder überkam sie der Gedanke, dass es besser gewesen wäre, wenn auch sie bei dem Unfall ums Leben gekommen wäre – auch wenn sie wusste, dass es falsch war, so etwas auch nur zu denken.
Die erste Nacht in ihrem neuen Leben war alles andere als angenehm gewesen. Zuerst hatte sie große Schwierigkeiten gehabt, überhaupt einzuschlafen und dann wurde sie auch noch von Alpträumen geplagt. Doch würde sie sich wohl oder übel an ihr neues Leben gewöhnen müssen. Dazu gehörte auch, sich mit allem vertraut zu machen, sie konnte sich ja wohl kaum die ganze Zeit in ihrem Zimmer verkriechen. Ihr Zimmer – wie sich das anhörte, ganz ungewohnt. Gedankenverloren blickte sie aus dem Fenster, beobachtete die kleinen Wolken, die am Himmelszelt vorbeizogen.
Jetzt hör doch endlich auf damit, hör endlich auf zu heulen. Du bist doch schließlich kein kleines Kind mehr , riss sie sich selbst aus ihrer Traumwelt, wischte sich ein paar Tränen aus den Augen, schnappte sich die Krücken und machte sich auf ihre Entdeckungstour durch die Schule.
Doch das Vorankommen war mühselig – einerseits, weil sie sich in dem Gebäude noch rein gar nicht auskannte und so immer wieder in Sackgassen geriet, und andererseits tat ihr das Bein weh, kaum, dass sie das Erdgeschoss erreicht hatte.
Erschöpft ließ sie sich auf eine der Couchen fallen, die rechts und links der Eingangshalle standen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Die warmen Sonnenstrahlen, die durch die große Glasfront schienen, umspielten die zarten Züge ihres Gesichtes.
»Was machst du denn hier? Ich dachte, du ruhst dich noch ein wenig aus. Du sollst dich doch noch nicht so sehr anstrengen!« Herr Hongo war mit einem Stapel Akten aus seinem Büro gekommen und wirkte nun sichtlich überrascht, als er sie erblickte.
»Ich musste einfach mal raus, sonst wäre mir die Decke auf den Kopf gefallen.«
»Wenn du magst, kann ich dir die Namen und Zimmernummern der Mädchen geben, die über die Ferien hier im Internat geblieben sind. Wenn ich mich nicht irre, müsste sogar jemand aus deinem Jahrgang hier sein oder zumindest früher als die anderen zurückkommen … ich kann gern noch mal in den Unterlagen nachschauen.«
Auch wenn dieser Vorschlag nur gut gemeint war, es war Jana alles andere als genehm. So gerne sie früher immer Menschen um sich gehabt hatte, noch war es zu früh – sie konnte und wollte niemandem gegenüber Rede und Antwort stehen müssen. Herr Hongo verstand ihre Einwände, auch wenn er es lieber gesehen hätte, wenn sie sich einem anderen gegenüber öffnen und ihre Gefühle zulassen würde.
»Aber vielleicht können Sie mir einen anderen Gefallen tun?«
»Der da wäre?«
»Ich würde gerne wissen, welchen Unterrichtsstoff meine Klasse in den letzten Wochen, oder besser Monaten, durchgenommen hat. Ich möchte nicht hinterher hängen, wenn das neue Schuljahr beginnt. Vor allem auch, weil wir ja hier in einem anderen Bundesland und die Lehrpläne doch bestimmt anders sind.«
»Aber deine Noten waren doch so weit recht in Ordnung. Ich glaube eigentlich nicht, dass du dir das antun musst.«
»BITTE«, flehte sie ihn beinahe an, »ich … ich …«
»Du brauchst die Ablenkung, damit du nicht immer an deine Eltern denken musst. Habe ich recht? Du musst nichts erklären. Ich weiß genau, was in dir vorgeht. Auch ich habe jemanden verloren … Wenn du magst, kannst du morgen früh in meinem Büro vorbeikommen und dir die Unterlagen abholen.«
»Vielen Dank.«
Ein kleines Lächeln zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, doch entging dem Direktor nicht, wie traurig, ja verzweifelt sie wirklich war.
* * *
Kaum hatte er die kompletten Unterlagen am nächsten Morgen zusammengesucht, stand Jana auch schon vor seiner Bürotür. Immer noch zögernd überreichte er ihr den Ordner, meinte aber im gleichen Moment: »Da hast du dir wirklich sehr viel vorgenommen. Wenn du Hilfe brauchst, weißt du ja, wo du mich findest. Die Bücherei hat rund um die Uhr geöffnet.«
Zurück auf ihrem Zimmer musste auch sie erst einmal schlucken, es war wirklich unglaublich viel Unterrichtsstoff, den sie da durcharbeiten wollte. Okay, einiges hatte sie bereits in ihrer alten Schule durchgenommen, aber auch das wollte sie nicht außen vorlassen, nicht zuletzt, da sie die letzten vier Wochen im Krankenhaus hatte liegen müssen. Für Geschichte, Biologie und Erdkunde brauchte sie bestimmt nicht viel Zeit, die Themen waren übersichtlich, aber bei Mathe, Chemie und Physik – diese Fächer lagen ihr ohnehin nicht so –, wusste sie gar nicht, wo sie ansetzen sollte.
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